Herr Dr. Ferlemann, Sie sind als Facharzt für Anästhesiologie in der Schmerzambulanz in der Tagesklinik Hofheim tätig. Was würden Sie sagen, sind die größten Herausforderungen in Ihrem Praxisalltag mit Schmerzpatient:innen?
Dr. Ferlemann: Ich bin kein ausgebildeter Psychologe und habe nur Kurse zur psychosomatischen Grundversorgung und zu autogenem Training absolviert. Trotzdem haben unsere Schmerzpatienten irgendwann alle psychologische Beschwerden, die ich nicht gut bedienen kann. Über die Jahre der Zusammenarbeit mit den Patienten kommt es oft zu depressiven Symptomen. Manche werden auch aufgrund der Schmerzen oder der Depressionen berentet und fallen oftmals in ein Loch.
Bei dem Mangel an Psychotherapeuten und vor allem Psychotherapeuten, die sich einem Schmerzpatienten annehmen wollen, ist eine angemessene Versorgung schwierig.
Sie haben schon angedeutet, dass Schmerzpatient:innen einen hohen Bedarf an Gesprächen haben und die psychologische Komponente des Schmerzes abgedeckt werden sollte. Wie sind Sie früher mit dem Bedarf umgegangen?
Dr. Ferlemann: Wir haben das Glück, dass in der Schmerztherapie auch das Gespräch durch die gesetzlichen Krankenversicherungen finanziert wird. Wenn man mit den Patienten ein langes Gespräch über 30 Minuten führt, kann man das zwar teilweise abdecken, aber eigentlich nur an der Oberfläche von dem kratzen, was die Patienten eigentlich bedrückt. Man kann außerdem versuchen darauf hinzuarbeiten, dass die Patienten weitergehende Hilfe in Anspruch nehmen wollen, denn viele sehen einfach zu Beginn nicht, dass sie ein psychisches Problem haben – sie haben halt Schmerzen. Viele haben aber über lange Zeit zum Beispiel Rückenschmerzen und das hat ja über die Jahre auch etwas mit den Patienten gemacht, woran wir gemeinsam arbeiten müssen.
Ja, verstehe. Eine Psychotherapie kann ja auch in der Lebensführung ansetzen, so kann eine Verhaltensaktivierung die Serotoninausschüttung aktivieren, welche wiederum die Schmerzen verringert. Das sind Zusammenhänge, die Patienten vielleicht gar nicht auf dem Schirm haben. Dadurch, dass Sie mit den Patient:innen darüber sprechen, fördern Sie das psychoedukative Verständnis und decken Zusammenhänge auf.
Dr. Ferlemann: Genau. Wenn die Angst schon so übermächtig ist, dass die Patienten gar nichts mehr tun, dann komme ich ambulant auch nicht mehr dran. Als es noch keine DiGA gab, bekamen die Patienten die Empfehlung, eine multimodale, stationäre oder tagesklinische Schmerztherapie zu machen, bei der sie drei Wochen lang edukativ und psychologisch betreut wurden. Heutzutage versuche ich oft, eine DiGA einzusetzen, gerade bei den Fibromyalgie-Patienten, die im mittleren Lebensalter sind. Für die ist es gar kein Problem, eine DiGA zu nutzen. Und gerade für diese Patienten ist ein aktivierender Ansatz nützlich.
Ein Vorteil der DiGA ist ja auch, dass die Hilfe direkt in den Alltag kommt, da wo sie gebraucht wird.
Dr. Ferlemann: Ja, und man muss nirgendwo hingehen zur Therapie. Die Patienten sind ja am liebsten in ihren vier Wänden, für die ist es oft zu viel, irgendwohin zu fahren. Da sind DiGA wirklich praktisch.
Wie können Sie Ihre Patient:innen von der DiGA überzeugen?
Dr. Ferlemann: Manchmal sage ich den Patienten, dass wir mit den Medikamenten nicht richtig weiterkommen und sie einen zusätzlichen Ansatzpunkt brauchen, um zu lernen, besser mit den Schmerzen klarzukommen. Dabei kann eine DiGA helfen. Das können die Patienten oft gut annehmen, da sie besser mit ihren Schmerzen zurechtkommen möchten. Das spricht einen ganz anderen Aspekt an als das, was wir mit unserer unimodalen Schmerztherapie, wie Medikamenten oder Physiotherapie, erreichen können.
Können Sie erzählen, wie Sie von DiGA erfahren haben und was Ihre Hauptmotivation war, diese in Ihrer Praxis zu implementieren?
Dr. Ferlemann: Eine Ihrer Vertreterinnen hat mir die DiGA speziell für die Schmerztherapie vorgestellt. Ich dachte, das sei vielleicht eine gute überbrückende Maßnahme, um die Patienten zu einer Psychotherapie zu motivieren. Gerade für die Patient:innen mittleren Alters, die häufig bei mir in Behandlung der Fibromyalgie sind, dachte ich, dass eine DiGA passend sein könnte. In der Leitlinie steht die Psychotherapie ja als eine der drei Hauptsäulen drin. Da ich aber wusste, dass es keine Therapieplätze gibt und ich es alleine auch nicht schaffe, habe ich DiGA ausprobiert.
Was ist Ihnen aufgefallen, als Sie angefangen haben, DiGA zu verschreiben? Was waren die Vorteile für Ihre Patient:innen, aber auch für Sie als Facharzt?
Dr. Ferlemann: Die Patienten bekommen ein Feedback dazu, was ihnen gut tut, wo ihre Problemstellen sind und wo sie bei der Bewältigung Hilfe brauchen. Ein großes Problem ist oftmals, dass die Patienten die Entspannung nicht alleine hinbekommen. Wenn sie aber merken, dass die Schmerzen besser werden, wenn man sich entspannt, sind sie offener, einen Kurs zu Autogenem Training oder PMR zu machen. Wenn sie merken, dass das hilft, sind sie motivierter, etwas Weitergehendes zu tun.
Haben Sie denn auch das Gefühl, dass die Patientinnen durch die DiGA ein besseres Verständnis für ihre Gesundheit haben und besser mit Ihnen als Arzt über ihre Symptome und die Psyche kommunizieren können?
Dr. Ferlemann: Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Patienten denken, es müsse doch irgendeine neue Pille geben, die ihren Schmerz kuriert. Das ist leider oft die Erwartungshaltung der Patienten. Manche sagen, dass sie feststellen, dass die Schlafprobleme, die sie haben, besser werden, weil sie vielleicht weniger grübeln oder sich weniger angespannt fühlen, dass es ihnen dann mit den Schmerzen auch besser geht. Sie kommen dann auf mich zu und fragen, was sie denn da noch tun könnten.
So kommt dann manchmal auch eins zum anderen. Dann kommen wir zum Schlaftagebuch oder zu anderen Dingen, die die Selbstwirksamkeit weiter fördern können, wo man dann auch edukativ in eine andere Richtung aktiv werden kann.
Jetzt haben Sie von den Vorteilen für die Patient:innen gesprochen, aber was sind für Sie als Arzt in Ihrer Praxis denn die Vorteile?
Dr. Ferlemann: Seitdem es bei Ihnen die Therapieverlaufsberichte gibt, ist es für mich natürlich auch transparenter geworden, wie sich der Patient über den Verlauf der DiGA entwickelt hat und ob das dem Patienten überhaupt etwas gebracht hat. Wenn man beispielsweise sieht, dass das Depression-Scoring sehr hoch ist, kann man darüber reden, sowohl den Schmerz zu modulieren als auch Antidepressiva einzusetzen, um die Aktivierung weiter zu steigern.
Es freut mich, dass Sie durch den Therapieverlaufsbericht einen Informationsgewinn erleben. Sehen Sie noch andere Vorteile von DiGA für sich als Arzt und für Ihre Praxis?
Dr. Ferlemann: Dass der Patient sich überhaupt mehr mit sich selbst beschäftigt. Schmerzpatienten sind oft nur auf den Schmerz fixiert. Viele betreiben ja „Doctor Hopping”: Wenn es hier nichts gibt, was ihnen verschrieben wird, gehen sie zum Orthopäden, dann zum zehnten Mal zum Neurochirurgen… Unzufrieden kommen sie dann wieder zum Schmerztherapeuten.
Wenn die Patienten durch eine DiGA merken, dass sie vielleicht auch in sich selbst etwas lösen können, dann ist das für mich als Arzt auch eine Entlastung, weil ich natürlich möchte, dass es den Patient:innen besser geht.
Man kann DiGA ja ganz unterschiedlich einsetzen: zur Überbrückung von Wartezeiten auf eine Psychotherapie, als eigenständige Behandlung, während einer Psychotherapie oder auch nach einer Behandlung. Wie setzen Sie DiGA konkret ein?
Dr. Ferlemann: Zu mir kommen die Patienten häufig, nachdem sie schon überall gewesen sind. Oft haben sie festgestellt, dass mit der reinen Schulmedizin keine ausreichende Linderung eingetreten ist. Bei Fibromyalgie-Patienten setze ich DiGA manchmal schon ganz am Anfang ein. Sie beginnen mit der DiGA und manche bekommen zusätzlich ein schmerzmodulierendes Mittel verordnet.
Bei manchen Patienten hilft die DiGA direkt von Anfang an allein, eventuell in Kombination mit Schmerzmitteln und Antidepressiva. Auch bei chronischen Schmerzpatienten, die schon lange in Behandlung sind und bei denen wir bereits viele Ansätze ausprobiert haben, setze ich DiGA ein.
Haben Sie vielleicht ein Beispiel von einem Patienten oder einer Patientin, das Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist? Könnten Sie schildern, wie der Verlauf war und wie Sie die DiGA eingesetzt haben?
Dr. Ferlemann: Der letzte Fall, bei dem ich einen guten Erfolg hatte, war eine Mutter mit zwei kleinen Kindern. Sie ist in Elternzeit, hat viel Stress zu Hause und leidet unter Ganzkörperschmerzen mit einer Intensität von 10 (NRS). Anfangs habe ich verschiedene Schmerzmittel ausprobiert, die jedoch keinen Erfolg brachten. Wir bewegten uns bei dieser Patientin im Bereich der somatoformen Schmerzstörung oder Fibromyalgie. Ich habe dann direkt mit der DiGA begonnen und sie verschrieben, als sie zu mir kam. Nachdem sie das Rezept eingelöst und die DiGA absolviert hatte, verspürte sie eine deutliche Schmerzlinderung. Wir konnten die dazu verordnete Dosis von Duloxetin von anfänglichen 60 mg auf 30 mg reduzieren und nun ist sie schmerztechnisch gut kontrolliert.
Sie hatten wahrscheinlich schon einige Patient:innen, die eine DiGA durchlaufen haben. Da Sie Ihre Patient:innen häufig sehen, haben Sie ja den Vorteil, direktes Feedback bekommen zu können. Was klappt aus Ihrer Sicht gut und was funktioniert noch nicht so gut?
Dr. Ferlemann: Es gibt immer mal wieder Patienten, die sagen, sie schaffen es nicht, entweder wegen Konzentrationsschwierigkeiten oder weil ihnen der Antrieb oder die Energie fehlt, weiterzumachen – sei es mit der DiGA oder anderen Maßnahmen, wie zum Beispiel Reha. Das sind dann in der Schmerztherapie oftmals die schweren Fälle, bei denen man nicht so recht weiterkommt. Auf der anderen Seite gibt es auch Patienten, die rückmelden, dass eine DiGA ihnen gut geholfen hat. Sie versuchen, bestimmte Übungen, meist Achtsamkeitsübungen, in ihren Alltag zu integrieren. Ich frage dann immer, ob sie noch dabei sind und viele bejahen das. Einige berichten auch bei den nächsten Folgeterminen, dass sie diese Achtsamkeitsübungen weiterhin in ihren Tagesablauf eingebaut haben. Manche melden mir auch zurück, dass Sie sich für die Bearbeitung der DiGA mehr Zeit wünschen.
Danke für das Feedback. Die meisten Programme sind auf zwölf Wochen begrenzt. Bei der Akzeptanz- und Commitment-Therapie kann ich mir vorstellen, dass dieser Ansatz für viele komplett neu ist. Da braucht man eine Weile, um sich einzuarbeiten und all die neuen Informationen aufzunehmen. Vor allem bei komplexen Störungsbildern, wie etwa Vaginismus, aber auch chronischen Schmerzen, ist sicher häufig eine Folgeverschreibung notwendig, damit die Patient:innen ausreichend Zeit haben.
Dr. Ferlemann: Genau, eine Folgeverschreibung nutze ich regelmäßig. Konzentrationsschwierigkeiten sind bei Fibromyalgie oft ein großes Problem und diese bedingen, dass einige Patienten die DiGA nicht innerhalb der 12 Wochen beenden können. Mit einer Folgeverschreibung schaffen sie es dann meistens.
Es ist gut zu wissen, dass kein Druck entstehen muss und dass man sich die Zeit nehmen kann, die man braucht – auch als Patient.
Sie haben jetzt schon viel über Schmerzen und die entsprechende DiGA erzählt, die Sie einsetzen. Haben Sie auch bereits andere DiGA eingesetzt?
Ja, ein paar Mal habe ich auch die DiGA HelloBetter Schlafen für Schlafstörungen eingesetzt. Ich hatte zum Beispiel eine jüngere Patientin mit Migräne und Schlafproblemen, die mich darauf ansprach. Ich schlug ihr vor, die DiGA auszuprobieren, da sich durch besseren Schlaf wahrscheinlich auch die Migräne verbessern würde. Ich verordnete ihr die DiGA und die Patientin berichtete, dass sie ihre Schlafprobleme damit sehr gut in den Griff bekommen hat. Wir konnten auch im Kopfschmerztagebuch sehen, dass die Häufigkeit der Attacken, besonders an den Wochenenden, durch die Schlafregulierung zurückgegangen ist. Sie hatte an den Wochenenden weniger Migräneattacken, ohne dass wir etwas an der Prophylaxe ändern mussten.
Wie erklären Sie Patient:innen, die noch nie von DiGA gehört haben, was das ist? Und wie gehen Sie mit Patient:innen um, die mehr darüber wissen möchten oder die zurückhaltend und Bedenken haben?
Dr. Ferlemann: Ich beginne meistens damit zu sagen, dass meines Erachtens eine DiGA helfen könnte und welche die Richtige für sie wäre. Für alles, was in meinen Bereich fällt, habe ich einen entsprechenden Flyer von HelloBetter in meiner Praxis, die ich den Patienten aushändige. Manche Patienten möchten direkt starten, andere möchten sich zunächst weiter einlesen. Die meisten, die einen Flyer mitgenommen haben, kommen beim nächsten Termin nach sechs Wochen zurück und sagen, dass sie es gerne ausprobieren würden. Anschließend verschreibe ich ihnen die DiGA.
Als letztes würden wir Sie gerne fragen, was Sie sich zukünftig noch wünschen würden? Sie haben bereits den Therapieverlaufsbericht erwähnt, der auf Basis von Feedback von Behandelnden entwickelt wurde. Gibt es noch andere Bereiche, in denen Sie sagen würden, dass DiGA noch besser integriert werden oder hilfreicher sein könnten?
Dr. Ferlemann: Was mich interessieren würde, ist ein Follow-up nach einem halben oder ganzen Jahr, bei dem die Patienten befragt werden, was sie noch weiterhin umsetzen und ob es ihnen geholfen hat. Das wäre spannend, um zu sehen, ob die DiGA einen längerfristigen Nutzen hat.
Vielen Dank für diese Anregung und das schöne Gespräch, Herr Dr. Ferlemann!
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