Die Definition sexueller Funktionsstörungen bei Frauen nach ICD-10
In der 10. Version der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) werden sexuelle Funktionsstörungen bei Frauen und Männern im Kapitel F5 „Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren“ aufgeführt. Die in diesem Kapitel aufgeführten sexuellen Funktionsstörungen sind in der Regel psychosomatischer Genese und verhindern die von der betroffenen Person gewünschten sexuellen Beziehungen.
Nichtorganischer Vaginismus (ICD-10 F52.5)
Der nichtorganische Vaginismus ist definiert als Spasmus der die Vagina umgebenden Beckenbodenmuskulatur, der eine vaginale Penetration schmerzhaft machen oder verhindern kann.1
Vaginismus wird je nach Literatur mit einer Prävalenz von 15 – 21 % angegeben.2 Trotzdem trifft man betroffene Patientinnen nur selten in der frauenärztlichen Sprechstunde an. Ein Grund kann die Angst vor der gynäkologischen Untersuchung sein, denn häufig ist nicht nur die vaginale Penetration im Rahmen des Geschlechtsverkehrs beeinträchtigt, sondern auch das Einführen etwa eines Fingers, Tampons oder eben eines Spekulums. Trotz der Schwierigkeiten beim Einführen können die sexuelle Appetenz, die Erregung und das Orgasmuserleben unbeeinträchtigt sein.2
Man unterscheidet zwischen primärem und sekundärem Vaginismus. Beim primären Vaginismus ist es der betroffenen Frau aufgrund der sexuellen Dysfunktion noch nie möglich gewesen, etwas in die Vagina einzuführen. Auffällig wird die Störung meist beim ersten Geschlechtsverkehr oder der ersten gynäkologischen Untersuchung. Beim sekundären Vaginismus entwickeln sich die Beschwerden nach initialer Beschwerdefreiheit im Laufe des Lebens.
Nichtorganische Dyspareunie (ICD-10 F52.6)
Die nichtorganische Dyspareunie ist definiert als wiederholt auftretender oder ständig vorhandener genitaler Schmerz, der sowohl bei Männern als auch bei Frauen auftreten kann.1
Bei der Dyspareunie ist das Eindringen in die Vagina nicht prinzipiell unmöglich, jedoch von Schmerzen im Bereich der Vulva, des Introitus vaginae und der Vagina begleitet. In der gynäkologischen Praxis werden Schmerzen im Zusammenhang mit dem Geschlechtsverkehr von fast 20 % aller Patientinnen angesprochen. Die Schmerzen beim Eindringen oder während des Sexualverkehrs werden von betroffenen Frauen oft als Brennen, Stechen, Ziehen oder Druckgefühl angegeben.2
Es bleibt jedoch anzumerken, dass beide Erkrankungen auch organischer Ursache sein können und dann im Kapitel zu Erkrankungen des Urogenitalsystems aufgeführt sind.1
Veränderungen der Klassifikation im ICD-11
Klinisch lassen sich die beiden Erkrankungen aus dem Kreis der sexuellen Funktionsstörungen bei Frauen häufig nur schwer unterscheiden. Das mag einer der Gründe sein, warum man sich in der 11. Auflage des ICD dazu entschieden hat, die separate Klassifizierung der beiden Erkrankungen aufzugeben, so wie es bereits seit Längerem im DSM-5 der Fall ist.
Im ICD-11 wird zukünftig die sexuelle Schmerz-Penetrations-Störung (ICD-11 HA20) aufgeführt und dem Unterkapitel sexuelle Schmerzstörungen zugeordnet. In dieser aus dem DSM-5 als Genito-pelvine-Schmerz-Penetrations-Störung bereits bekannten Diagnose werden die zuvor separat stehenden Diagnosen nichtorganische Dyspareunie und nichtorganischer Vaginismus zusammengefasst.3
Auch wurden im ICD-11 spezifische Merkmale der sexuellen Schmerz-Penetrations-Störung festgelegt. So ist diese sexuelle Funktionsstörung bei Frauen gekennzeichnet durch mindestens eins der folgenden Symptome:
- Ausgeprägte und anhaltende oder wiederkehrende Schwierigkeiten bei der Penetration. Dazu zählen auch unwillkürliche Anspannung oder Verspannung der Beckenbodenmuskulatur bei Penetrationsversuchen.
- Ausgeprägte und anhaltende oder wiederkehrende vulvovaginale oder pelvine Schmerzen bei der Penetration.
- Ausgeprägte und anhaltende oder wiederkehrende Furcht oder Angst vor vulvovaginalen oder pelvinen Schmerzen in Erwartung, während oder in Folge der Penetration.4
Des Weiteren legt das ICD-11 fest, dass die Symptome für eine Diagnose nicht auf eine organische Erkrankung, unzureichende vaginale Lubrikation oder postmenopausale Veränderung zurückzuführen sein dürfen. In diesem Fall kann z. B. die (organische) Dyspareunie (GA12) diagnostiziert und behandelt werden.4
Ursachen der beschriebenen sexuellen Funktionsstörungen bei Frauen
Es gibt verschiedene Ursachen für die Entstehung der beiden sexuellen Funktionsstörungen nichtorganischer Vaginismus und nichtorganische Dyspareunie. Häufig liegen weitere Komorbiditäten wie eine Depression oder eine Angststörung vor, die eine Entstehung oder Aufrechterhaltung begünstigen können. Psychologische Charakteristika sind oftmals das Vorliegen von Neurotizismus, Schüchternheit oder einem geringen Selbstwert. Hinzu können eine sexualfeindliche elterliche Erziehung oder Enttäuschungen durch erste Sexualkontakte kommen. Besonders beim Vaginismus liegt häufig der Befund einer sexuellen oder emotionalen Traumatisierung in der Vorgeschichte vor.2,5
Teufelskreis des vaginalen Schmerzes
Die Entstehung von nichtorganischem Vaginismus und nichtorganischer Dyspareunie lässt sich zur Veranschaulichung gut an den Teufelskreis der Angst (nach Margraf und Schneider, 2008) anlehnen:
Ein initiales schmerzhaftes Ereignis während der Penetration kann zu angstbehafteten Gedanken über den Schmerz, seine Ursachen und Folgen führen (z. B. „Meine Vagina ist anatomisch zu eng, ich werde nie schmerzfreie Penetration erleben können”). Dies wiederum kann eine somatische Übersensibilität und negative Emotionen in Bezug auf Schmerzen bedingen , d.h. bereits geringe Schmerzen werden überdeutlich wahrgenommen und überinterpretiert. Als Folge wird die vaginale Penetration zukünftig vermehrt vermieden. Im weiteren Verlauf können sich Hypertonizität im Beckenboden, verminderte Erregung und reduzierte Lubrikation entwickeln, was durch die anhaltenden Ängste gefördert werden kann. Dies wiederum kann zur wiederholten schmerzhaften Penetration führen, welche die Angst davor und das Vermeidungsverhalten stärken.5,6
Diagnostik von Vaginismus und Dyspareunie
Eine klare Unterscheidung zwischen Dyspareunie und Vaginismus ist in der Praxis oft nicht eindeutig möglich.2 Eine erste Beurteilung über das mögliche Vorliegen einer sexuellen Funktionsstörung beinhaltet eine allgemeine medizinische Beurteilung mit Charakterisierung der Beschwerden und Erhebung der medizinischen, chirurgischen, gynäkologischen, psychiatrischen und medikamentösen Vorgeschichte der betroffenen Frau. Für die Erhebung einer sorgfältigen sexualmedizinischen Anamnese sollte eine offene und entspannte Atmosphäre ohne Zeitdruck gegeben sein.5
Bisher gibt es kein empirisch standardisiertes Diagnoseprotokoll für die beiden Erkrankungen. Die Untersuchung des Genitalbereiches scheint obligatorisch, um andere den Schmerz verursachende Anomalien auszuschließen. Beim Vaginismus ist die vaginale Untersuchung jedoch häufig erschwert oder nicht möglich und sollte im Verlauf der Behandlung nachgeholt werden. In zahlreichen klinischen Studien beispielsweise wurde sich auf den Selbstbericht der betroffenen Frauen verlassen.7
Zur Diagnostik sexueller Funktionsstörungen bei Frauen stehen verschiedene Fragebögen zur Verfügung. Ein Fragebogen, der bei der Einschätzung einer sexuellen Funktionsstörung unterstützen kann, ist der Female-Sexual-Function-Index (FSFI). Dieser ermittelt die sexuellen Empfindungen und Reaktionen in den letzten 4 Wochen für folgende 6 Bereiche: sexuelle Appetenz, Erregung, Lubrikation, Orgasmus, Zufriedenheit und Dyspareunie.2
Zur Umfelddiagnostik sollten zudem eine vaginale pH-Messung, eine Hormonanalyse und eine Bewertung des Beckenbodentonus erfolgen.5
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Behandlung der beiden sexuellen Funktionsstörungen bei Frauen
Die Therapie sexueller Funktionsstörungen wie dem nichtorganischen Vaginismus und der nichtorganischen Dyspareunie kann durch kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung erfolgen. Zusätzlich können Entspannungs- und Beckenbodenübungen und ein Desensibilisierungstraining mit Vaginaldilatoren in die Therapie eingebunden werden.
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Quellennachweis
- Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Internationale Klassifikation der Erkrankungen – ICD-10. Abgerufen von: https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-who/kode-suche/htmlamtl2019/block-f50-f59.htm#F52
- Kaufmann, M., Costa, S., Scharl, A (2013). Die Gynäkologie (3. Auflage). Heidelberg: Springer-Verlag. Kapitel 57, S. 1032-1040.
- Brunner, F., Klein, V., Reed, G., Briken, P (2017). Die Feldstudien zur Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) – Version 11 und die zukünftige Klassifikation sexueller Störungen. Zeitschrift für Sexualforschung, volume 30, page 74-81.
- Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Internationale Klassifikation der Erkrankungen – ICD-11, deutscher Entwurf. Abgerufen von: https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html;jsessionid=E1412C351ED65C543883EF41750FF591.intranet261
- Dias-Amaral, A., Marques-Pinto, A (2018). Female Genito-Pelvic Pain/Penetration Disorder: Review of the Related Factors and overall Approach. Revista Brasileira de Ginecologia e Obstetrícia, Volume 40: 787-793. doi: 10.1055/s-0038-1675805
- Butrick, C. W (2009). Pathophysiology of Pelvic Floor Hypertonic Disorders. Obstetrics and Gynecology Clinics, volume 36, issue 3, page 699-705. doi: https://doi.org/10.1016/j.ogc.2009.08.006
- Lahaie, M. A., Boyer, S. C., Amsel, R., Khalifé, S., Binik, Y. M (2010). Vaginismus: a review of the literature on the classification/diagnosis, etiology and treatment. Women’s Health (2010) 6(5), 705–719. doi: https://doi.org/10.2217/WHE.10.4
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