1. Welle der Verhaltenstherapie – Verhalten
Ihren Ursprung fand die erste Welle der Verhaltenstherapie im sogenannten Behaviorismus. Vertreterinnen und Vertreter dieses wissenschaftstheoretischen Konzepts gingen davon aus, dass menschliches Verhalten allein durch naturwissenschaftliche Methoden erforscht werden kann. Sie schenkten daher inneren Prozessen wie dem Denken und Fühlen, die damaligen empirischen Methoden noch kaum zugänglich waren, nur wenig Beachtung.
Im Zentrum der ersten Welle steht die Grundannahme, dass menschliches Verhalten grundsätzlich erlernbar ist. Damit lässt sich nicht nur zielführendes Verhalten erlernen, sondern auch nicht-zielführendes Verhalten ver- bzw. umlernen. Mit zielführendem Verhalten ist dabei solches gemeint, welches zur Bedürfnisbefriedigung des Individuums beiträgt. Das könnte zum Beispiel sozialverträgliches Verhalten sein, das die Zugehörigkeit zur Gruppe sicherstellt. Analog dazu meint nicht-zielführendes Verhalten, Verhalten, das der Befriedigung von wichtigen Bedürfnissen im Weg steht.
Wo die erste Welle der Verhaltenstherapie auch heute noch zu finden ist
Auch heute noch relevante Lerntheorien wie die klassische und die operante Konditionierung versuchten in diesem Zusammenhang die Entstehung und Aufrechterhaltung von Verhalten zu erklären. Sie beschrieben Verhalten als spontane oder erlernte Reaktion auf einen Umweltreiz. Psychotherapeutische Methoden versuchten vor allem nicht-zielführende Reiz-Reaktions-Assoziationen zu verlernen bzw. umzulernen. Ein Beispiel hierfür wäre eine unangemessen starke Angstreaktion auf einen objektiv wenig gefährlichen Reiz (wie z. B. bei einer Spinnenphobie).
Diese Methoden der ersten Welle sind auch heute noch in der psychotherapeutischen Praxis zu finden. Zum Beispiel dann, wenn eine Angstpatientin oder ein Angstpatient im Rahmen einer Therapie daran arbeitet, sich dem angstauslösenden Reiz schrittweise anzunähern. Das Vermeidungsverhalten also vermehrt aufzugeben, um die irrationale Angst vor dem entsprechenden Reiz schrittweise durch Habituation abzubauen und so die Angst langfristig zu überwinden.
Zu den wichtigsten Vertreterinnen und Vertretern der ersten Welle der Verhaltenstherapie zählen Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1936), bekannt für die klassische Konditionierung, und Burrhus Frederic Skinner, bekannt für die Weiterentwicklung der klassischen Konditionierung, die sogenannte operante Konditionierung (1904-1990).
DiGA-Einsatz
Wo findet sich die erste Welle in den HelloBetter Online-Therapieprogrammen wieder?
Methoden aus der ersten Welle der Verhaltenstherapie finden sich zum Beispiel in unserem Online-Therapieprogramm HelloBetter Panik in Form von sogenannten Mutprojekten wieder. Im Rahmen dieser Mutprojekte stellen sich die Teilnehmenden Schritt für Schritt ihren Ängsten. Im Fall von sozialen Ängsten könnte ein Mutprojekt zum Beispiel so aussehen, dass die betroffene Person eine für sie angstbesetzte soziale Situation herbeiführt. Vielleicht wollte sie der Postbotin oder dem Postboten etwa schon immer einmal sagen, dass die Pakete nicht vor der Tür abgelegt werden sollten. Eine auf diese Art und Weise bewusste Konfrontation mit dem angstauslösenden Reiz oder der angstauslösenden Situation und die Erkenntnis darüber, dass die angenommenen negativen Folgen nicht eintreten, kann langfristig zu einer Abnahme der Angst führen.
2. Welle der Verhaltenstherapie – Kognitionen
Hauptkritikpunkt an der ersten Welle der Verhaltenstherapie war das bewusste in Kauf nehmen der sogenannten Blackbox. Mit der Blackbox ist dabei all das gemeint, was sich nicht naturwissenschaftlich messen lässt. Dazu zählen unter anderem innere Prozesse wie das Denken und Fühlen.
Aus dieser Kritik ergibt sich Anfang der 1950-70er-Jahre die kognitive Wende – ein fundamentaler Einschnitt in das bisherige Selbstverständnis der Verhaltenstherapie. Die kognitive Wende kann man auch als Wandel von einer „übungsorientierten” hin zu einer „erkenntnisorientierten” Verhaltenstherapie verstehen. Mit ihr entsteht der Versuch, die Blackbox des Behaviorismus aufzulösen und die dem Verhalten zugrunde liegenden inneren Prozesse näher zu beschreiben und besser zu verstehen. Dabei geht man zu diesem Zeitpunkt noch von einer hierarchischen Struktur des inneren Prozesses aus, in dem das Denken den Emotionen überlegen ist. Die Bedeutung, die den Denkprozessen auf diese Weise beigemessen wird, spiegelt sich auch in der Annahme wider, dass sie hauptverantwortlich für die Entstehung von psychischen Erkrankungen sind. Zwei der wichtigsten Vertreter der kognitiven Wende waren die Psychologen Albert Ellis (1913-2007) und Aaron T. Beck (1921-2021).
Die ABC-Theorie nach Ellis
„There is nothing either good or bad but thinking makes it so.”
Shakespeare in Hamlet
Als einer der ersten Psychologen seiner Zeit schrieb Ellis dem Denken eine zentrale Rolle in der Entstehung von Verhalten und Gefühlen zu. Das von ihm entwickelte ABC-Modell ist auch heute noch ein fester Bestandteil der verhaltenstherapeutischen Praxis. Einfach gesagt basiert Ellis Modell auf der Idee, dass unsere Bewertung von einer bestimmten Situation darüber entscheidet, wie wir diese erleben. Bewertungen von Situationen können dabei zielführend oder nicht-zielführend sein. So kann beispielsweise eine herausfordernde Situation auf der Arbeit (auslösende Situation) zu einer zielführenden Bewertung („Es wird vielleicht nicht perfekt, aber ich schaffe das!”) führen oder aber zur nicht-zielführenden Bewertung („Wenn es nicht perfekt wird, habe ich versagt!”). Aus diesem Beispiel ist leicht zu erkennen, dass die zielführende Bewertung mit höherer Wahrscheinlichkeit zu einer für die betreffende Person positiven Bewältigung der Situation führen wird als die nicht-zielführende Bewertung.
Ziel der Psychotherapie ist in einem solchen Fall das Infragestellen der nicht-zielführenden Überzeugungen (Disputation) und die Gewinnung der damit einhergehenden Erkenntnis der Irrationalität (kognitive Umstrukturierung). Langfristig soll das Individuum so sein Verhalten adaptiv anpassen können.
A: Activating event (Auslösende Situation)
B: Beliefs (irrationale und rationale Bewertungen)
C: Consequences (emotionale, kognitive, behaviorale und physische Reaktion)
D: Disputation (Infragestellen von irrationalen Überzeugungen)
E: Effect (kognitive Umstrukturierung)
Becks kognitives Modell
Ein Modell, das die heutige verhaltenstherapeutische Arbeit noch stärker prägt als Ellis ABC, ist das kognitive Modell von Aaron T. Beck. Im Rahmen seiner Arbeit mit depressiven Patientinnen und Patienten erkannte Beck, dass frühe Lernerfahrungen häufig zu Überzeugungen führen, die sich im weiteren Verlauf des Lebens in Form von automatischen Gedanken äußern. Mit automatischen Gedanken sind hierbei Gedanken gemeint, die in bestimmten Situationen automatisch und in der Regel unbewusst ausgelöst werden. Diese automatischen Gedanken können dann dazu führen, dass die entsprechende Situation durch einen bestimmten, oft eher negativen Filter wahrgenommen wird.
Beispiel
Am besten lässt sich das an einem Beispiel nachvollziehen. Nehmen wir dafür einmal an, ein Patient namens Paul hat in seiner Kindheit nur wenig Bestätigung und Zuneigung erfahren. Seine Eltern waren viel abwesend. Wenn sie anwesend waren, haben sie Paul vermittelt, dass aus ihm nichts werden kann. Aus dieser Lernerfahrung mit seinen engsten Bezugspersonen hat Paul die Überzeugung entwickelt: „Ich schaffe sowieso nichts.” Diese Überzeugung zeigt sich im Erwachsenenalter häufig in sozialen oder leistungsbezogenen Situationen in Form von automatischen Gedanken. Wenn Paul zum Beispiel in eine Situation kommt, in der er seine Fähigkeiten unter Beweis stellen soll, könnte er mit Gedanken reagieren wie: „Ich kann das nicht. Andere werden merken, dass ich nicht gut genug bin.” Diese automatischen Gedanken führen dazu, dass Paul sich unsicher fühlt, sein Können nicht erprobt und womöglich resigniert. In der Folge kann eine Depression entstehen.
Interessant ist, dass vielen Patientinnen und Patienten diese automatischen Gedanken und die dahinter liegenden Überzeugungen zu Beginn einer Therapie nur wenig bewusst sind. Ziel der verhaltenstherapeutischen Arbeit ist in diesem Fall das Bewusstmachen der automatischen Gedanken und die Veränderung der dahinterliegenden, nicht-zielführenden Überzeugungen. Durch die Veränderung der nicht-zielführenden Überzeugungen hin zu zielführenderen Überzeugungen können zukünftige Situationen ohne die destruktiven, automatischen Gedanken besser bewältigt werden.
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Wo findet sich die zweite Welle in den HelloBetter Therapieprogrammen wieder?
Methoden aus der zweiten Welle der Verhaltenstherapie finden sich zum Beispiel in unserem Online-Therapieprogrammen HelloBetter Depression und HelloBetter Schlafen wieder. In beiden Programmen erlernen Teilnehmende Strategien der kognitiven Umstrukturierung anhand des ABC-Modells.
3. Welle der Verhaltenstherapie – Akzeptanz, Achtsamkeit und Emotionen
Die dritte Welle der Verhaltenstherapie entwickelt sich in den 1980er und 1990er-Jahren aus zahlreichen neuen therapeutischen Ansätzen. Dazu gehören die Schematherapie von Young, die Akzeptanz- und Commitment-Therapie von Hayes, Strosahl und Wilson sowie die Dialektische Verhaltenstherapie von Linehan. Was all diese Ansätze vereint, ist die Kritik an der bisherigen VT, das innere Erleben (vor allem Gedanken und Gefühle) kontrollieren zu wollen.
Im Zentrum der dritten Welle der Verhaltenstherapie steht die Grundüberzeugung, das Denken und Fühlen nicht durch gezielte Kontrolle, sondern durch Achtsamkeit und Akzeptanz verändern zu wollen. Achtsamkeit meint in diesem Zusammenhang eine besondere Form der Aufmerksamkeitslenkung auf das Hier und Jetzt. Sie ermöglicht die Wahrnehmung des gegenwärtigen eigenen Erlebens. Akzeptanz lässt sich am besten mit der Bereitschaft beschreiben, angenehme und unangenehme Erfahrungen ohne Ablehnung aktiv und offen zuzulassen. Wichtig ist: Achtsamkeit und Akzeptanz schließen Veränderung nicht aus. Vielmehr sind sie die Grundvoraussetzung für diese. Nur wenn das Hier und Jetzt wahrgenommen und ohne Ablehnung zugelassen werden kann, entsteht Raum für Veränderung.
Mit der Anerkennung des Leidens als universelles menschliches Problem ändert sich auch das Verständnis der Beziehung zwischen Therapeut und Patient. Sie wird nicht mehr nur als eine Begegnung zwischen helfender und hilfesuchender Person verstanden. Vielmehr beschreibt sie die Beziehung von zwei Menschen, die sich in ihrem Leid begegnen.
Emotionsregulation durch Achtsamkeit und Akzeptanz
Achtsamkeit und Akzeptanz stellen einen wichtigen Teil der Emotionsregulation dar.
Zu den wichtigsten Fähigkeiten im Zusammenhang mit der Emotionsregulation zählen die folgenden:
- Achtsam und akzeptierend mit Emotionen umgehen können
- Sehr intensive Emotionen herunterregulieren können
- Die Bedeutung der eigenen Emotionen verstehen (d. h. die dahinter liegenden Bedürfnisse erkennen können)
Patientinnen und Patienten, die auf keine adaptiven Strategien zur Emotionsregulation zurückgreifen können, vermeiden oder unterdrücken auftretende negative Emotionen oft durch dysfunktionalen Bewältigungsstrategien (z. B. durch Ablenkung, Dissoziation oder Prokrastination). Diese dysfunktionalen Bewältigungsstrategien sind häufig Kern der Psychopathologie einer Patientin bzw. eines Patienten (z. B. Ablenkung durch Essanfälle bei einer Bulimiepatientin).
DiGA-Einsatz
Wo findet sich die 3. Welle in unseren Online-Therapieprogrammen wieder?
Methoden aus der 3. Welle der Verhaltenstherapie finden sich unter anderem in unserem Online-Therapieprogramm HelloBetter chronische Schmerzen wieder. Anhand von Strategien aus dem Bereich der Achtsamkeit und Akzeptanz erlernen Teilnehmende, die Schmerzen wahr- und anzunehmen und die eigene Aufmerksamkeit wieder bewusst auf positivere Aspekte des eigenen Lebens zu lenken.
Ausblick: 4. Welle der Verhaltenstherapie – Körper und Digitalisierung?
Im Zentrum einer möglichen vierten Welle der Verhaltenstherapie könnten nach aktuellen Entwicklungen körperbasierte Ansätze stehen. Die bewusste Arbeit mit dem Körper hat das Ziel, neben dem beobachtbaren Verhalten und den inneren Prozessen des Denkens und Fühlens eine weitere Ebene des Erlebens in den therapeutischen Prozess mit aufzunehmen. Der Körper soll dabei vor allem als Tor zu der oftmals nur schwierig greifbaren Ebene der Emotionen dienen. Die Psyche ist immer eingebettet in den Körper und innerpsychische Prozesse beziehen daher immer die körperliche Ebene mit ein. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn Überlebende sexueller Gewalt psychosomatische Schmerzen bei sexueller Aktivität entwickeln. Oder aber auch, wenn eine Panikattacke zunächst die Ebene des Körpers einbezieht, ohne dass die betroffene Person die Ursache für die Panikattacke ausmachen kann. In jeder Emotion ist auch ein Körpergefühl enthalten. Der Körper kann also als Teil der Psyche gesehen werden und als Tor zu blockierten Emotionen.
Ein weiterer Aspekt, der sich in Hinblick auf eine mögliche vierte Welle abzeichnet, sind die Errungenschaften der Digitalisierung. Dazu zählen nicht nur Online-Therapieprogramme wie die von HelloBetter, sondern auch Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz und dem maschinellen Lernen.
Was genau uns erwartet, können wir an dieser Stelle nicht sagen. Eins ist klar: bei der Vielzahl an Weiterentwicklungen wird es schwierig sein, einen bestimmten Fokus auszumachen.
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Fazit – Modernste Methoden aus allen 3 Wellen
Seit ihren Anfängen in den 1920er Jahren hat sich die VT ständig weiterentwickelt. Von ihren Anfängen bis heute ist sie wissenschaftlich fundiert geblieben und hat sich mit jeder Erneuerung weiter für neue Erkenntnisse und andere Therapieschulen geöffnet. In unseren Digitalen Gesundheitsanwendungen verwenden wir bewährte und stets aktuelle Methoden aus allen 3 Wellen der Verhaltenstherapie. Natürlich passen wir unsere Methoden auch zukünftig an den aktuellen Stand der Entwicklung an, um eine bestmögliche Versorgung sicherstellen zu können. Die vierte Welle kann also kommen!
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Quellennachweis
- Brakemeier, E. L. (2022). Der Ozean der evidenzbasierten personalisierten Psychotherapie und seine Wellen. PSYCH up2date, 16(02), 95-99.
- Heidenreich, T., & Michalak, J. (Eds.). (2013). Die» dritte Welle «der Verhaltenstherapie: Grundlagen und Praxis. Beltz.
- Heidenreich, T., Michalak, J., & Eifert, G. (2007). Balance von Veränderung und achtsamer Akzeptanz: die dritte Welle der Verhaltenstherapie. PPmP-Psychotherapie· Psychosomatik· Medizinische Psychologie, 57(12), 475-486.
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