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Die Digitalisierung im Gesundheitswesen: eine Bestandsaufnahme

Auf jedem ärztlichen oder psychotherapeutischen Kongress ist es eines der Top-Themen: die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Ob elektronische Patientenakte, Telemedizin oder digitale Gesundheitsanwendungen – die Digitalisierung betrifft alle Bereiche in der Gesundheitsbranche. Die Erfahrungen sind gemischt und noch immer gibt es einige Hürden, die den Fortschritt bremsen. Doch wo genau stehen wir, auch im Vergleich mit anderen Ländern? Und wie können wir als Behandelnde die Digitalisierung so für uns nutzen, dass wir und Betroffene bestmöglich davon profitieren?

Aktueller Überblick zur Digitalisierung im Gesundheitswesen

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens betrifft so gut wie alle denkbaren Bereiche. Die bekanntesten Beispiele des digitalen Gesundheitswesens sind: Elektronisches Rezept (eRezept), elektronische Patientenakte (ePA), Telemedizin, digitale Programme zur Verwaltung von Dokumentation, Dienstplänen und interner Kommunikation, Praxisverwaltungssysteme (PVS) und digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA). Viele dieser Entwicklungen wurden durch Gesetzesvorhaben der letzten Jahre angestoßen, sind aber erst teilweise in der Versorgung angekommen.

Das digitale Gesundheitswesen – wo hakt es?

Eine Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsfor­schung (2022) hat hervorgehoben, dass die Digitalisierung in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern immer weiter zurückfällt und „laut internationaler Studien zuletzt eher zu den Schlusslichtern im europäischen Vergleich” zählt.1 Als mögliche Ursachen werden Interessenkonflikte der Akteursgruppen, Bürokratie, hohe Technologiekosten, Sicherheitsbedenken, regulatorische Unsicherheiten und fehlende Zuverlässigkeit der technischen Lösungen diskutiert. Die Corona-Pandemie habe einerseits viele Schwachstellen aufgedeckt und viele Ressourcen gebunden, andererseits aber auch Handlungsdruck erzeugt.

Eine weitere häufig genannte Hürde sind fehlende Schnittstellen. So kommt es beispielsweise zu Mehrfachuntersuchungen, weil Daten aus verschiedenen Sektoren nicht weitergegeben werden können. Das Potenzial digital erfasster Daten kann so für Behandelnde und Betroffene nicht genutzt werden und es entstehen zusätzliche Kosten. Eine weitere Hürde ist die geringe Nutzung und Kenntnis der neu eingeführten digitalen Möglichkeiten wie zum Beispiel die elektronische Patientenakte oder digitale Gesundheitsanwendungen. So wurden bis Ende Juni 2023 erst 704.050 elektronische Patientenakten angelegt.2

Insgesamt wünschen sich viele Behandelnde und Betroffene eine stärkere Einbindung in die Prozesse der Digitalisierung des Gesundheitswesens, damit alle Bedarfe berücksichtigt werden können und die Umsetzung den Anforderungen des Alltags entspricht.

Wo liegen die Chancen der Digitalisierung?

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen hakt zwar an vielen Stellen, hat aber insgesamt große Potenziale, die Gesundheitsversorgung zu verbessern und Behandelnde in ihrer Arbeit zu unterstützen. Welche das sind, zeigen wir im Folgenden auf:

1Behandlungsoptimierung

Gerade in akuten Notfällen können Daten über Leben und Tod entscheiden. Blutgruppe, Allergien, Vorerkrankungen und andere Daten sind wichtige Informationen für Ärztinnen und können schnelle Therapieentscheidungen erleichtern. 

Aber nicht nur im Notfall zeigt sich die Chance von sofort verfügbaren und gemeinsam nutzbaren Daten. Je mehr Daten in der Forschung zur Verfügung stehen, desto besser können Anwendungen zur Früherkennung, Prävention und Behandlung von Erkrankungen entwickelt werden und Behandelnde in ihrer Arbeit unterstützen. So gibt es beispielsweise erste Ansätze von künstlicher Intelligenz in der Psychotherapie, welche die Diagnostik psychischer Erkrankungen unterstützen. 

Insgesamt liegt die Chance der Digitalisierung auch darin, dass durch den Datenaustausch und unterstützende digitale Tools die Rate der falschen oder übersehenen Diagnosen verringert wird, Chronifizierungen vorgebeugt und schwere Verläufe verhindert werden. Auch eine zunehmend individualisierte Behandlungsplanung könnte durch die Digitalisierung ermöglicht werden.

2Niedrigschwellige Angebote

Laut aktuellen Umfragen gehen die Menschen in Deutschland sehr häufig zum Arzt – häufiger als in den meisten Nachbarländern.3 Das liegt auch daran, dass sich viele Menschen unsicher sind, bei welchen Beschwerden sie einen Arzt aufsuchen sollten und bei welchen nicht. Eine Antwort auf dieses Problem können digitale Programme oder telemedizinische Angebote sein, die eine erste Einschätzung vornehmen können. So können auch Menschen in ländlichen Regionen gut erreicht werden. 

Niedrigschwellige Angebote wie digitale Gesundheitsanwendungen können außerdem die angespannte Versorgungssituation entlasten, Wartezeiten überbrücken und auch die Menschen ansprechen, die aus unterschiedlichen Gründen keine leitliniengerechte Behandlung in Anspruch nehmen können oder wollen. Weitere Chancen von digitalen Gesundheitsanwendungen stellen Orts- und Zeitunabhängigkeit, sofortige Verfügbarkeit und die kostenfreie Nutzung für Betroffene dar.

3Entlastung für Behandelnde

Viele Behandelnde leiden unter den hohen bürokratischen Hürden und dem Zeitaufwand für administrative Aufgaben. Sofort verfügbare Daten und Symptomwerte bieten die Chance, Mehrfacherhebungen zu vermeiden und Behandelnden auf einen Blick alle wichtigen Daten darzustellen. Viele Behandelnde geben ihren Patientinnen auch Tagebücher mit, in denen sie Beschwerden wie Kopfschmerzen oder Schlafstörungen eintragen, um eine genauere Einschätzung zu erhalten. Digitale Tagebücher und digitale Symptomerfassungen können diese Datenerhebung erleichtern und die Ergebnisse für Behandelnde und Betroffene übersichtlich visualisieren. Auch wichtige Dokumente wie der Impf- oder Mutterpass gehen nicht mehr verloren, sondern sind jederzeit elektronisch verfügbar.

Immer mehr Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sammeln Erfahrungen mit der verzahnten Psychotherapie – auch Blended Care genannt. Dabei werden digitale Anwendungen mit der Face-to-Face-Psychotherapie kombiniert, um die Vorteile beider Welten zu verbinden. So kann beispielsweise die Symptomerfassung ausgelagert und die Psychoedukation aufgefrischt werden.

4Kommunikation und Gesundheitskompetenz der Patientinnen verbessern

Bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens ist es wichtig, auch die Bedürfnisse der Patienten zu berücksichtigen. Viele Patientinnen haben beispielsweise Schwierigkeiten, in kurzen Arztgesprächen alle relevanten Informationen aufzunehmen und zu verstehen. Eine Einordnung von Symptomen und Beschwerden, wie sie beispielsweise in vielen digitalen Gesundheitsanwendungen umgesetzt wird, führt häufig zu einer Verbesserung der Gesundheitskompetenz auf Seiten der Patientinnen. 

Betroffene lernen, ihre Beschwerden einzuordnen und eigenverantwortlich an ihrer Gesundheit zu arbeiten. Je besser die Betroffenen ihre Beschwerden verstehen, desto besser können sie diese auch mit den Behandelnden kommunizieren und die empfohlene Behandlungsplanung mitgestalten und nachvollziehen. 

Zunehmend diskutiert wird in diesem Zusammenhang auch der Einsatz sogenannter Patient-Report-Outcome-Measures – also die systematische Erfassung der subjektiven Sicht von Patientinnen und Patienten und des tatsächlichen Nutzens von Interventionen für die Betroffenen.

Gefahren der Digitalisierung

Eine der größten Gefahren der Digitalisierung liegt im Umgang mit den erhobenen Daten. Ein vernachlässigter Datenschutz kann viele Gefahren mit sich bringen so können verfügbar gemachte Daten beispielsweise zu Stigmatisierung und Diskriminierung führen. Daher ist es im Rahmen der Digitalisierung des Gesundheitswesens essenziell, dass Patientinnen die Datenhoheit haben und darüber entscheiden können, mit wem sie ihre Daten teilen wollen. Außerdem müssen die Anwendungen auf Seiten der Nutzenden leicht verständlich sein, sodass Betroffene auch davon profitieren und digitale Anwendungen nutzen. 

Diese hohen Anforderungen an Benutzerfreundlichkeit und Datenschutz wurden in Bezug auf Digitale Gesundheitsanwendungen bereits umgesetzt. Auch die Studie des Fraunhofer-Instituts betont die hohen Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit und weist darauf hin, dass der Kriterienkatalog so umfassend und anspruchsvoll ist, dass der Aufwand für viele DiGA-Hersteller zu hoch sein könnte.1 Mehr zum Thema Patientenbeteiligung und Benutzerfreundlichkeit sind in unseren Fachblogartikeln zu finden.

Fazit und Ausblick zur Digitalisierung im Gesundheitswesen

Es gibt noch einige Hürden, die überwunden werden müssen, um das volle Potenzial der Digitalisierung im Gesundheitswesen zu entfalten. Insgesamt bietet die Digitalisierung aber ein großes Potenzial, die Gesundheitsversorgung für Behandelnde und Betroffene nachhaltig zu verbessern. 

Ein Bereich, in dem die Umsetzung in den Versorgungsalltag bereits heute unkompliziert umgesetzt werden kann, ist der Bereich der digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA). DiGA-Rezepte können schon heute von den Behandelnden einfach ausgestellt werden wenn es im PVS-System hakt, auch manuell auf Rezept. DiGA Rezepte werden dann von den Patienten einfach bei der Krankenkasse eingereicht. Die Verordnung erfolgt extrabudgetär und kann sowohl von Ärztinnen als auch von Psychotherapeuten ausgestellt werden. Weitere Informationen dazu finden Sie in unserem Leitfaden zu Digitalen Gesundheitsanwendungen.

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  • Quellennachweis
    1. Bratan, Tanja et al. (2022) : E-Health in Deutschland: Entwicklungsperspektiven und internationaler Vergleich, Studien zum deutschen Innovationssystem, No. 12-2022, Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), Berlin 
    2. Pk. (2023, March 8). Niedrige Nutzungszahlen der elektronischen Patientenakte. Deutscher Bundestag. Abgerufen unter: https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-959634
    3. Janson, M. (2020, July 20). Deutsche häufig beim Arzt und in der Ambulanz. Statista Daily Data. Abgerufen unter: https://de.statista.com/infografik/22308/anzahl-von-arztbesuchen-pro-person-und-jahr/
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