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Transdiagnostik: Sind diagnoseübergreifende Interventionen die Zukunft der Psychotherapie?

Nachdem der Fokus der Psychotherapieforschung lange Zeit auf der Entwicklung und Evaluation störungsspezifischer Behandlungsmanuale lag, werden derzeit wieder verstärkt alternative Konzepte wie transdiagnostische Interventionen diskutiert. Gerade bei komorbiden Erkrankungen erscheint es sinnvoll, den Fokus auf diagnoseübergreifende Faktoren zu richten und diese zu adressieren. Doch wie genau sieht ein solcher Ansatz der Transdiagnostik aus und wie lässt er sich in die psychotherapeutische Praxis integrieren?

Grenzen störungsspezifischer Behandlungsansätze

Für die Bewilligung einer Psychotherapie ist in Deutschland unter anderem eine Diagnose der Kategorie F nach ICD-10 erforderlich. Diese Klassifikation ermöglicht neben der Abrechnung mit den Krankenkassen die Kommunikation mit verschiedenen Interessengruppen und erleichtert Wirksamkeitsstudien. Wir wissen jedoch seit langem, dass psychische Gesundheit ein multidimensionales Konstrukt ist und durch die kategoriale Einteilung viele Informationen verloren gehen. Eine kategoriale Diagnostik betont die Unterschiede und lässt die Gemeinsamkeiten verschiedener Erkrankungen in den Hintergrund treten. Dies spiegelt sich auch in der großen Heterogenität der Symptommuster innerhalb einer Diagnosekategorie wider. So kann es beispielsweise vorkommen, dass die Behandlung von zwei Patienten mit unterschiedlichen Diagnosen ähnlicher ist als die von zwei Patienten mit derselben Diagnose.

Hinzu kommt die Herausforderung, dass isolierte Diagnosen ohne komorbide Erkrankungen in der Praxis eher die Ausnahme als die Regel darstellen. Behandlungsmanuale fokussieren jedoch häufig nur auf eine Diagnose und geben keine Hinweise zum Umgang mit komorbiden Erkrankungen. In der Praxis stehen Psychotherapeuten zudem vor der Herausforderung, sich nicht für jede Indikation spezialisieren zu können. Das Konzept der Transdiagnostik setzt genau hier an und ermöglicht es Psychotherapeutinnen, trotz diagnostischer Kategorien der Individualität der Patientinnen gerecht zu werden. 

Es gibt verschiedene Bestrebungen, die kategoriale Taxonomie durch eine Art dimensionale Taxonomie zu ergänzen. So hat beispielsweise das US-amerikanische National Institute of Mental Health (NIMH) sogenannte Research Domain Criteria (RDoC) entwickelt ein Konzept, das versucht, menschliches Verhalten mit Hilfe dimensionaler Konstrukte zu beschreiben. Das Konzept umfasst beispielsweise negative und positive Valenzsysteme, kognitive Systeme wie Aufmerksamkeit oder ein System für soziale Prozesse wie Bindungsverhalten und soziale Kommunikation.

Was genau versteht man unter Transdiagnostik?

Der Begriff transdiagnostisch bedeutet diagnoseübergreifend. Transdiagnostische Faktoren sind also solche Faktoren, die über mehrere Diagnosen hinweg für die Entstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung psychischer Beschwerden eine Rolle spielen. Eine transdiagnostische Therapie orientiert sich dementsprechend an diesen zugrundeliegenden Mechanismen, anstatt sich auf die Reduktion spezifischer Symptommuster zu konzentrieren. 

Dieses Vorgehen verspricht gerade bei Vorliegen mehrerer Diagnosen effizienter und hilfreicher zu sein als die sukzessive Behandlung einzelner Diagnosen. So könnte sich beispielsweise die Verbesserung von Emotionsregulationsstrategien sowohl auf eine affektive Erkrankung als auch auf eine Angsterkrankung positiv auswirken. Damit wird auch den Zusammenhängen und Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Störungsbildern Rechnung getragen. Die Leitfrage der Transdiagnostik lautet daher: Welche Faktoren liegen der Symptomatik zugrunde? 

Transdiagnostik an sich ist kein neues Konzept. Insbesondere die Behandlungsansätze der psychodynamischen und systemischen Therapieschulen sind in ihrem Grundverständnis transdiagnostisch. In der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) hingegen stand lange Zeit die diagnosespezifische Behandlung im Vordergrund. Transdiagnostische Strömungen der KVT nutzen sowohl bekannte Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie (z. B. Expositionen) als auch Verfahren der dritten Welle (z. B. metakognitive Techniken).

Transdiagnostische Krankheitsfaktoren

Transdiagnostische Krankheitsfaktoren können in der Psychotherapie beispielsweise durch horizontale und vertikale Verhaltensanalysen herausgearbeitet werden. Zu solchen Krankheitsfaktoren gehören vor allem folgende Bereiche:

  • Emotionen: z. B. Vermeidung von Emotionen, Schwierigkeiten in der Emotionsregulation
  • Kognitionen: z. B. Grübeln, selektive Aufmerksamkeit, dysfunktionale Kognitionen, z. B. in Form von negativen Glaubenssätzen
  • Verhalten: z. B. Sicherheits- oder Vermeidungsverhalten
  • Körperliche Empfindungen: z. B. Anspannung, Schlafprobleme

Transdiagnostische Interventionen in der psychotherapeutischen Praxis

Eine Transdiagnostik und daraus abgeleitete Interventionen eignen sich besonders gut, um bestehende diagnosespezifische Ansätze zu ergänzen, zum Beispiel in Form einer modularen Psychotherapie. Insbesondere bei Vorliegen mehrerer Diagnosen kann eine Transdiagnostik Behandelnden einen Leitfaden an die Hand geben, der Krankheitsfaktoren beschreibt und daraus Implikationen für die Psychotherapie ableitet. So könnte beispielsweise bei der oben beschriebenen Komorbidität von einer affektiven Erkrankung und einer Angststörung deutlich werden, dass die Vermeidung unangenehmer Gefühle und katastrophisierende Gedanken beide Erkrankungen begünstigen. Anstatt zunächst ein störungsspezifisches Therapiemanual für affektive Störungen und dann eines für Angststörungen anzuwenden, könnte ein Behandlungsschwerpunkt auf den transdiagnostischen Problembereichen liegen. Dabei ist zu beachten, dass bei vielen psychischen Erkrankungen spezifische und wirksame Behandlungselemente nicht weggelassen werden sollten und die Transdiagnostik eher eine Ergänzung oder Vertiefung darstellen sollte. 

Wer nach reinen transdiagnostischen Ansätzen sucht, wird schnell bei den sogenannten Dritte-Welle-Verfahren fündig. Insbesondere die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) versteht sich als transdiagnostisch. ACT geht davon aus, dass psychisches Leiden durch die Vermeidung unangenehmer Zustände, kognitive Fusion, fehlende Werteorientierung und mangelnde Achtsamkeit entsteht. Die daraus abgeleiteten Interventionen wie Wertearbeit, Achtsamkeitstechniken und kognitive Defusionen sind diagnoseübergreifend einsetzbar. Ein weiteres Beispiel für einen transdiagnostischen Ansatz aus der dritten Welle ist die Schematherapie. 

In den letzten Jahren wurden auch einige explizite transdiagnostische Therapiemanuale veröffentlicht, zum Beispiel die Transdiagnostische Behandlung emotionaler Störungen von Barlow et al. (2019).1 Dieses Therapiemanual eignet sich zur Behandlung von Angst- und affektiven Erkrankungen sowie Erkrankungen mit einer starken emotionalen Komponente wie somatoforme Störungen. Das Therapiemanual zielt beispielsweise darauf ab, die Wahrnehmung von Emotionen zu verbessern, die kognitive Flexibilität zu erhöhen und Emotionen zu exponieren. 

Digitale transdiagnostische Interventionen?

Ob in der Face-to-Face-Psychotherapie oder in digitalen Gesundheitsanwendungen: Der Fokus liegt (noch) auf der störungsspezifischen Behandlung einzelner Diagnosen. Die Möglichkeit, transdiagnostische Interventionen in die bestehende Behandlung zu integrieren, ist jedoch bereits heute möglich – auch in digitalen Anwendungen. So finden beispielsweise Teilnehmende des Online-Therapieprogramms HelloBetter Schlafen in optionalen Wahlmodulen Interventionen zur Emotionsregulation, zum Problemlösen und zur Stärkung des Selbstwertgefühls. Auch der transdiagnostische Ansatz der Akzeptanz- und Commitmenttherapie ist bereits digital verfügbar: Im Online-Therapieprogramm HelloBetter ratiopharm chronischer Schmerz lernen Teilnehmende mittels ACT, ihre Schmerzen in den Hintergrund rücken zu lassen und ihr Leben wieder stärker an ihren Werten auszurichten. 

Evidenz transdiagnostischer Interventionen

Die Zahl der Wirksamkeitsstudien zu transdiagnostischen Interventionen in der Psychotherapie ist noch überschaubar. Erste Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass transdiagnostische Therapien nicht nur zu Veränderungen der transdiagnostischen Krankheitsfaktoren führen, sondern etwa bei Angststörungen oder affektiven Störungen eine signifikante Symptomreduktion erreichen.2,3,4 Erste Studien zum Vergleich transdiagnostischer vs. störungsspezifischer Interventionen zeigten zudem, dass es keinen bedeutsamen Unterschied in Bezug auf die Reduktion störungsspezifischer Symptome gibt.5,6 

Auch die Wirksamkeit transdiagnostische Verfahren der dritten Welle wie ACT im Vergleich zu anderen Therapieansätzen konnte für verschiedene Diagnosen bestätigt werden.7

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  • Quellennachweis
    1. Barlow, D. H. (2019). Transdiagnostische Behandlung emotionaler Störungen: Therapeutenmanual.
    2. Lotfi, M., Bakhtiyari, M., Asgharnezhad Farid, A. A. & Amini, M. (2013). The Effectiveness of Transdiagnostic Therapy on Emotion Regulation Strategies of Patients with Emotional Disorders: A Randomized Clinical Trial. Practice in Clinical Psychology, 1(4), 227–232.
    3. Reinholt, N. & Krogh, J. (2014). Efficacy of transdiagnostic cognitive behaviour therapy for anxiety disorders: A systematic review and meta-analysis of published outcome studies. Cognitive Behaviour Therapy, 43(3), 171–184.
    4. Gros, D. F. & Allan, N. P. (2019). A randomized controlled trial comparing Transdiagnostic Behavior Therapy (TBT) and behavioral activation in veterans with affective disorders. Psychiatry research, 281, 112541
    5. Reinholt, N., Hvenegaard, M., Christensen, A. B., Eskildsen, A., Hjorthøj, C. et al. (2022). Transdiagnostic versus diagnosis-specific group cognitive behavioral therapy for anxiety disorders and depression: A randomized controlled trial. Psychotherapy and Psychosomatics, 91(1), 36–49.
    6. Kristjánsdóttir, H., Sigurðsson, B. H., Salkovskis, P., Sigurðsson, E., Sighvatsson, M. B. et al. (2019). Effects of a brief transdiagnostic cognitive behavioural group therapy on disorder specific symptoms. Behavioural and cognitive psychotherapy, 47(1), 1–15.
    7. Öst, L. (2014). The efficacy of Acceptance and Commitment Therapy: An updated systematic review and meta-analysis. Behaviour Research and Therapy, 61, 105–121. https://doi.org/10.1016/j.brat.2014.07.018

    Heßler, J. B., & Fiedler, P. (2019). Transdiagnostische Interventionen in der Psychotherapie.

    Schanz, C., Mattheus, H., Equit, M., & Schäfer, S. (2022). Therapie-Tools Transdiagnostische Psychoedukation: Mit E-Book inside und Arbeitsmaterial.

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