Liebe Anne, vielen Dank, dass du dir Zeit für dieses Gespräch nimmst. Vielleicht kannst du zunächst berichten, wie du zu HelloBetter gekommen bist und was deine aktuelle Rolle im Unternehmen ist?
Anne Etzelmüller: Ja, total gerne! Bei HelloBetter bin ich schon sehr lange. Denn 2010 habe ich begonnen, mit David Ebert* an der Philipps Universität Marburg zusammenzuarbeiten. Als es dann an der Leuphana Universität Lüneburg die Studien gab, in denen unsere heutigen Therapieprogramme entwickelt wurden, habe ich dort als Hilfswissenschaftlerin gearbeitet. Deswegen kenne ich unsere Kurse auch schon sehr lange und von Anfang an. Als ich dann mein Psychologiestudium abgeschlossen habe, wollte ich gerne in der Forschung bleiben, aber auch Erfahrungen in der Praxis sammeln. Ich bin daher an eine Klinik gegangen, in der wir in einem EU-Projekt digitale Interventionen in die Routineversorgung implementieren wollten. Und bin so eigentlich durchgängig mein ganzes Berufsleben dabei geblieben: Am Anfang bei der Leuphana Universität, dann beim Get.On Institut** und dann war ich auch direkt dabei, als HelloBetter gegründet wurde.
Mittlerweile bin ich in Vollzeit bei HelloBetter angestellt und Gastwissenschaftlerin an der Technischen Universität in München. Heute haben wir bei HelloBetter ein großes Team für den Bereich der klinischen Forschung, für das ich aktuell die Teamleitung übernehme. Mein Team beschäftigt sich vor allem mit den Studien zur Wirksamkeit, die wir brauchen, um im Rahmen des Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) als Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) gelistet zu werden.
* Prof. Dr. David Daniel Ebert, Gründer & Chief Scientific Officer bei HelloBetter
** Ehemaliger Firmenname von HelloBetter
Bei HelloBetter gibt es also ein ganzes Team, das für die Forschung zuständig ist. Welchen Stellenwert nimmt denn die Evidenz bei HelloBetter ein?
Anne Etzelmüller: Die Wirksamkeitsforschung bei HelloBetter nimmt auf jeden Fall einen sehr großen Stellenwert ein, denn wir kommen ja komplett aus der Forschung. Alle unsere Therapieprogramme sind in Forschungsprojekten, meist im Rahmen von Promotionsprojekten entwickelt und evaluiert worden. Und daraus entstand dann die Idee, diese Programme auch in die Routineversorgung zu bringen. Das ist ein Weg, den glaube ich nicht alle Medizinproduktehersteller von Anfang an gehen. Meist kommen Hersteller aus der anderen Richtung. Man bringt etwas auf den Markt und schaut dann, ob es wirkt.
Ich persönlich war auch immer sehr irritiert davon, dass so viele Interventionen – nicht nur digitale – entwickelt werden und dann nie in der Praxis ankommen. Entweder Projekte aus Universitäten, die gut wirken, aber dann nie in der Versorgung ankommen. Oder auch andersherum, dass einfach so viele Produkte und Techniken entwickelt werden, obwohl man gar nicht weiß, ob die wirken.
Und deswegen war ich schon immer ganz stark daran interessiert, evidenzbasiert Interventionen auch für die Routineversorgung nutzbar zu machen. Da hab ich natürlich ganz viel Anschluss beim Get.On Institut gefunden. Weil es immer schon unser großes Ziel war, darauf zu achten, dass das, was in der Routineversorgung ankommt, eben auch evidenzbasiert und tatsächlich wirksam ist und korrekt angewendet wird. Und dass wir Menschen, die unsere Produkte nutzen, keine falschen Versprechen machen.
Kernstück des Unternehmens sind die Online-Therapieprogramme, von denen aktuell 5 als DiGA zugelassen sind. Zur dauerhaften DiGA-Zertifizierung verlangt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) unter anderem den Nachweis eines positiven Versorgungseffektes. Kannst du näher erläutern, welche Möglichkeiten DiGA-Hersteller haben, um diesen nachzuweisen?
Anne Etzelmüller: Zu jedem spezifischen Produkt muss ein Nachweis zur Wirksamkeit erbracht werden. Das muss entweder ein medizinischer Nutzen oder eine patientenrelevante Struktur- oder Verfahrensverbesserung sein. Der medizinische Nutzen ist daran messbar, dass unsere Teilnehmenden eine signifikante Symptomverbesserung ihrer Beschwerden erleben. Es kann aber auch sein, dass zum Beispiel die Lebenszufriedenheit steigt. Und um das nachzuweisen, müssen wir Wirksamkeitsstudien vorlegen.
Bei HelloBetter ist es so, dass wir die Wirksamkeit vieler unserer Therapieprogramme schon nachgewiesen haben. Also jedes unserer Therapieprogramme ist schon in mindestens einer randomisiert-kontrollierten Studie untersucht worden. Das BfArM lässt es auch zu, dass man anhand von bereits existierenden Daten und bereits durchgeführten Studien eine permanente DiGA-Zertifizierung beantragt. Genau das macht unser Team bei HelloBetter mit den Daten, die wir schon aus vergangenen Studien haben. Damit haben wir auch schon einige Zertifizierungen erreicht.
Eines der Therapieprogramme, nämlich HelloBetter ratiopharm chronischer Schmerz, ist nur vorläufig im DiGA-Verzeichnis gelistet. Dabei liegt auch für dieses Online-Therapieprogramm bereits eine Studie zur Wirksamkeit vor. Wieso konnte trotzdem keine dauerhafte DiGA-Listung genehmigt werden?
Anne Etzelmüller: Ich würde nicht „nur“ vorläufig gelistet sagen. Denn für die Teilnehmenden macht das ja tatsächlich keinen Unterschied. Bei HelloBetter ratiopharm chronischer Schmerz ist es so, dass das Programm bereits 2014 in einer Studie evaluiert wurde. Und das war zu einer Zeit, in der wir noch nicht wussten, welche Anforderungen das BfArM zukünftig an Wirksamkeitsstudien stellen wird. Damals haben wir Menschen mit chronischen Schmerzen und einer signifikanten Schmerzbeeinträchtigung in die Studie eingeschlossen. Und mit diesen Betroffenen haben wir dann die Wirksamkeit unseres Online-Therapieprogramms nachgewiesen. In unserer aktuellen Studie schauen wir uns nun die indikations-spezifische Wirksamkeit für sechs chronische Schmerz-Diagnosen an. Für diese Diagnosen möchten wir noch einmal gezielt einen Effekt des Programms nachweisen, um Betroffenen dieser Indikationen unsere DiGA zur Verfügung zu stellen.
Wie schneiden die Online-Therapieprogramme von HelloBetter denn laut Studienlage gegenüber der Face-to-Face Therapie ab? Kann man die Wirksamkeit überhaupt miteinander vergleichen?
Anne Etzelmüller: Das ist eine super spannende Frage! Es gab mal eine Metaanalyse zu dem Thema, die aber schon ein bisschen älter ist. In dieser konnte nachgewiesen werden, dass es über alle Studien, welche in die Metaanalyse eingeschlossen wurden, hinweg tatsächlich keinen Unterschied zwischen einer Face-to-Face Therapie und einer digitalen Behandlung gab. In manchen Studien wurde gezeigt, dass die digitale Therapie etwas besser war, in anderen Studien war es andersherum. Und wenn man alle Studien mittelt, dann hat sich tatsächlich kein Unterschied gezeigt.
Ich finde es aber auch immer wichtig zu ergänzen, dass Menschen, die an solchen Vergleichsstudien teilnehmen, es sich prinzipiell vorstellen können, ggf. auch in der Gruppe der digitalen Therapie zu landen. Das heißt, für Menschen, die offen gegenüber einer digitalen Therapie sind, kann diese Form der Therapie genauso wirksam sein. Eine Studie, in der wir unsere Online-Therapieprogramme direkt mit einer Face-to-Face Therapie vergleichen, haben wir noch nicht durchgeführt. Aber die Effekte unserer Therapieprogramme sind mit denen der erwähnten Metaanalyse vergleichbar.
Gibt es Standards, die HelloBetter als aus der Forschung gewachsenes Unternehmen zusätzlich selbst an die Studien stellt?
Anne Etzelmüller: Ich muss ehrlich gesagt sagen, dass die Standards, die das BfArM an uns heranträgt, schon extrem hoch sind. Ich komme ja von der Uni und habe dort sehr gute wissenschaftliche Forschung erlernt und angewandt. Aber das, was nun im Bereich der Zertifizierung zum Medizinprodukt von uns verlangt wird, ist schon eine andere Nummer und da sind die Standards sehr hoch. Gleichzeitig machen wir bei HelloBetter auch noch einiges darüber hinaus, da gibt es zum Beispiel noch zusätzliche Normen, an die wir uns in der wissenschaftlichen Arbeit halten. Und auch darüber hinaus betreiben wir Forschung, vor allem was z. B. User Experience angeht. Dafür haben wir zum Beispiel unseren Innovation Circle, wo wir die Ansichten von den Nutzerinnen und Nutzern mit einbeziehen.
Außerdem arbeiten wir mit vielen Kooperationspartnern zusammen, weil es uns auch sehr wichtig ist, wissenschaftlich gut vernetzt zu sein. Aktuell kooperieren wir mit der Technischen Universität in München. Und für die Zulassungsstudien benötigt man einen Evaluationspartner. Außerdem wird auch immer ein Monitor benötigt, der unabhängig die Studienabläufe prüft. Das kenne ich so von universitären Studien gar nicht, finde aber, dass es eine richtig gute Sache ist! Und ansonsten holen wir uns von den internationalen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, mit denen wir schon lange zusammenarbeiten, immer die Expertise ein, die wir für jedes einzelne Projekt brauchen.
Du meintest, dass ihr die Ansichten eurer Nutzerinnen und Nutzer gerne mit einbezieht. Wie genau kann man sich das vorstellen?
Anne Etzelmüller: Aktuell führen wir hauptsächlich Befragungen durch, gelegentlich auch Fokusgruppen. Das macht bei uns aber der Bereich User Research. Das ist immer eine sehr aufwendige Sache, die gut geplant sein muss. Für die Befragungen suchen wir uns immer ein spezifisches Thema raus, z. B. Patient-Therapeut-Beziehung. Und dann gibt es zum Teil validierte Fragebögen, die wir den Teilnehmenden schicken können. Oft stellen wir aber auch offene Fragen. In der Zukunft werden wir das auch noch viel mehr für die Produktoptimierung machen.
Welche aktuellen Forschungsprojekte zur Wirksamkeit führt ihr durch? Und wie kann ich als Arzt oder Ärztin sehen, welche Studien gerade laufen und wo ich geeignete Patienten und Patientinnen einschließen könnte?
Anne Etzelmüller: Also einerseits haben wir große Verbundprojekte. Auch z. B. ein Horizon-2020-Projekt zu Multi-Level-Interventionen im Betrieblichen Gesundheitsmanagement oder unser Kooperationsprojekt Get Sleep. Aber ich glaube, die Projekte, für welche wir gerade am meisten Unterstützung brauchen und die vielleicht auch am spannendsten sind, sind unsere DVG-Studien.
Gerade abgeschlossen ist die Zertifizierungsstudie für unsere DiGA HelloBetter ratiopharm chronischer Schmerz. Das war unsere HelloBetter Schmerzstudie für Menschen, die ihre Schmerzbeeinträchtigung im Alltag verbessern wollen und die Wirksamkeit des Online-Therapieprogramms für unterschiedliche Schmerzdiagnosen untersucht. Dabei wollten wir genau untersuchen, für welche Diagnosen das Online-Therapieprogramm wie gut wirksam sein kann.
Untersuchte Diagnosen in der HelloBetter Schmerzstudie:
Anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10: F45.40)
Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10: F45.41)
Fibromyalgie (ICD-10: M79.7)
Rückenschmerzen (ICD-10: M54)
Chronischer unbeeinflussbarer Schmerz (ICD-10: R52.1)
Sonstiger chronischer Schmerz (ICD-10: R52.2)
Welche weiteren Projekte sind für die Zukunft geplant?
Anne Etzelmüller: Die nächste Wirksamkeitsstudie, die wir durchführen, ist die HelloBetter Schlafstudie zu unserem Online-Therapieprogramm HelloBetter Schlafen. Da haben wir zunächst mit einer Pilotstudie begonnen, mit der wir erstmal austesten wollten, ob unser Study-Flow gut passt. Denn wir haben die Erfahrung gemacht, dass es sinnvoll ist, bevor man so eine große randomisierte Studie beginnt, diese vorher nochmal gut zu testen. Das haben wir jetzt erstmal mit 40 Betroffenen gemacht, bevor die richtige Studie beginnt. Für Menschen mit Insomnie bedeutet das, dass sie jetzt im Rahmen der Studie kostenlos an dem Programm teilnehmen können.
Einschlussdiagnosen für die HelloBetter Schlafstudie:
Nicht-organische Insomnie (ICD-10: F51.0)
Ein- und Durchschlafstörungen (ICD-10: G47.0)
Es gibt noch ein paar weitere HelloBetter-Programme, die noch nicht als DiGA zertifiziert sind, z. B. zu Depression oder Alkoholabhängigkeit. Ist denn auch für diese Online-Therapieprogramme eine Zertifizierung in Planung?
Anne Etzelmüller: Ja, auf jeden Fall! Gleichzeitig ist es so, dass solche Zertifizierungsprozesse sehr langwierig und kostenintensiv sind und wir uns als kleines Unternehmen natürlich genau überlegen müssen, wie wir am besten vorgehen. Ich glaube, wir haben bereits viel erreicht, indem wir jetzt mit bereist 6 DiGA auf dem Markt sind. Und vielleicht sind es ja bald auch schon 7 oder 8 DiGA. Insgesamt haben wir 12 Programme und es wäre natürlich toll, wenn auch für diese eine Zertifizierung zeitnah klappen könnte.
Zum Abschluss: Gibt es etwas, dass dich im Rahmen der Studienergebnisse mal besonders überrascht oder gefreut hat?
Anne Etzelmüller: Einiges! Was mich besonders gefreut hat, ist, dass wir mal eine Studie gemacht haben, in der wir uns die Therapeut-Patient-Beziehung genau angeschaut haben. Und da haben viele Menschen gesagt, dass eine therapeutische Beziehung auch in Online-Interventionen richtig gut funktioniert. Da waren zum Teil Aussagen von auch therapieerfahrenen Patienten wie: „Ich fühle mich in dem Geschriebenen richtig gut verstanden und dadurch, dass ich auch nicht so richtig weiß, wer da auf der anderen Seite sitzt, projiziere ich nicht so viel in die andere Person hinein. Und dadurch kann ich erzählen, ohne dass ich mich in den Kontext der anderen Person versetze“. Wie gesagt, Online-Therapieprogramme sind nicht unbedingt das Richtige für jeden oder jede, aber es gibt Menschen, die davon profitieren. Und diese Zusammenhänge auch mal genauer anzuschauen finde ich super wichtig.
Wir danken Anne für diesen spannenden Einblick hinter die Kulissen von HelloBetter.
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