Das Wichtigste in Kürze
- Im Jahr 2020 wurde von über 8 Millionen Betroffenen mit Typ-1 oder Typ-2-Diabetes in Deutschland ausgegangen.
- Die Prävalenz einer komorbiden Depression ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung bei Typ-2-Diabetes zweifach, bei Typ-1-Diabetes dreifach erhöht.
- Es gibt zahlreiche pathophysiologische und psychische Prozesse, die eine Komorbidität zwischen Diabetes mellitus und Depression begünstigen können.
- Zur Behandlung der komorbiden Depression wird laut der S2-Leitlinie Psychosoziales und Diabetes1 neben Antidepressiva die kognitive Verhaltenstherapie als Behandlung erster Wahl empfohlen.
Prävalenz der komorbiden Depression
Für das Jahr 2020 wurde im Deutschen Gesundheitsbericht Diabetes von über 8 Millionen von Diabetes mellitus Typ-1 oder Typ-2 Betroffenen ausgegangen.2 Die Erkrankung Diabetes mellitus geht häufig mit verschiedenen Komorbiditäten einher. Eine dieser Komorbiditäten ist das gemeinsame Auftreten mit Depressionen. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ist die Lebenszeitprävalenz einer komorbiden Depression bei Typ-2-Diabetes ungefähr doppelt so hoch. Bei Typ-1-Diabetes ist sie sogar dreifach erhöht.3 Doch trotzdem werden die beiden Erkrankungen im Praxisalltag selten miteinander in Verbindung gebracht. So bleibt eine begleitende Depression häufig unerkannt und entsprechend unzureichend bis gar nicht behandelt.
Die Pathophysiologie hinter der Komorbidität Diabetes mit Depression
In der Wissenschaft wird heute von einer bidirektionalen Assoziation zwischen den beiden Erkrankungen Diabetes mellitus und komorbiden Depressionen ausgegangen. So können pathophysiologische Prozesse oder psychische Belastungen durch den Diabetes mellitus Typ 1 oder 2 eine Depression auslösen. Aber auch umgekehrt kann das Erleiden einer Depression einen Diabetes mellitus ausbrechen (Typ 2) oder voranschreiten (Typ 1 oder 2) lassen. Zudem gibt es auch Faktoren, die beide Erkrankungen gleichermaßen bedingen können. Im Folgenden möchten wir Ihnen einen Überblick über die wichtigsten pathophysiologischen Prozesse geben:
1Psychische Belastung durch die Diagnose Diabetes
Als chronische Erkrankung bedarf ein Diabetes mellitus ständiger Behandlung und Kontrolle sowie einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Erkrankung. Dies kann für Betroffene eine große Belastung darstellen. So müssen beispielsweise Blutzuckerwerte im Auge behalten, Insulin gespritzt oder die Ernährung umgestellt werden. Hinzu kommt oft die Angst vor einer Hypoglykämie, die Sorge vor möglichen Folgeerkrankungen oder regelmäßige Arzt- und Klinikbesuche. All das kann zu starkem Stress und einem Gefühl der Überforderung führen. Aber nicht nur der Diabetes selbst, auch mögliche Folgeerkrankungen, wie beispielsweise die diabetische Polyneuropathie können zu massiven Einschränkungen der Lebensqualität führen und damit die Komorbidität begünstigen.4
2Sozioökonomische Faktoren und Lebensstil
Die Komorbidität von Diabetes mellitus mit Depression kann auch durch Umwelt- und Lebensstilfaktoren begünstigt sein. So kann zum Beispiel ein geringer sozioökonomischer Status zur Entwicklung beider Erkrankungen gleichermaßen beitragen.5 Soziale Ungleichheiten wie ein niedrigeres Bildungsniveau und ein geringeres Einkommen fördern ungünstige Lebensweisen, die sowohl einen Diabetes mellitus Typ 2 als auch eine Depression begünstigen können. Diese sind zum Beispiel: mangelnde körperliche Aktivität, Nikotinkonsum, eine ungesunde Ernährung, ein stressbehaftetes Arbeitsumfeld oder ungenügender Schlaf.
3Strukturelle Veränderungen im Gehirn
Ein langjähriger Diabetes mellitus kann – vor allem bei nicht optimaler Blutzuckereinstellung – zu strukturellen Veränderungen im Hirngewebe führen. Dazu zählen zum Beispiel zerebrale Atrophie, lakunäre Infarkte oder Blutflussveränderungen. In wissenschaftlichen Untersuchungen konnte bei Betroffenen mit Diabetes mellitus eine Verringerung des Hirnvolumens festgestellt werden, welche sich vor allem im Hippocampusgebiet zeigte. Dieser Befund kann auch eine Depression begünstigen. Denn auch bei Depressionen werden häufig insbesondere im präfrontalen Kortex und im Hippocampus neurodegenerative Prozesse gefunden.5
4Depressionsspezifische Verhaltensfaktoren
Weiterhin können sich Verhaltensfaktoren, die durch eine Depression bedingt sind, negativ auf einen bestehenden Diabetes mellitus auswirken oder den Ausbruch eines Typ-2–Diabetes begünstigen. Das Erleben von depressiven Symptomen wie Antriebslosigkeit, negativem Denken oder Interessenverlust kann bei Betroffenen den Umgang mit dem Diabetes erschweren und eine Non-Compliance fördern. Die aktive Beschäftigung mit einer gesunden Ernährung oder regelmäßigen Bewegung erscheint unmöglich, die regelmäßigen Blutzuckermessungen oder Insulingaben werden vergessen und das Einhalten von Kontrolluntersuchungen ist erschwert.4
5Einnahme von Antidepressiva
Ein weiterer Faktor, der die Komorbidität von Diabetes mellitus mit Depression begünstigen kann, ist die Einnahme von antidepressiven Medikamenten. Denn zahlreiche Antidepressiva verfügen über ein Nebenwirkungsprofil, dass sich ungünstig auf den Glukose-Metabolismus auswirken kann.3 Trizyklische Antidepressiva können beispielsweise den Blutzuckerspiegel erhöhen und häufig zur Gewichtszunahme führen und damit Diabetes mellitus Typ 2 begünstigen. Unter einer Therapie mit Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI) wie Sertralin kann der Insulinbedarf infolge einer erhöhten Insulinsensitivität sinken und eine Anpassung der Insulindosis erforderlich sein. Bei langjähriger Einnahme von SSRI wurden vermehrte Hypoglykämien beschrieben, während beispielsweise Duloxetin auf Dauer zum Anstieg des Blutzuckers führen kann.1
6Neuroendokrinologische Veränderungen
Eine neuere These zieht neuroendokrinologische Veränderungen durch Stress als begünstigenden Faktor für sowohl Diabetes mellitus als auch Depression heran. Durch chronischen Stress verschiedener Genese kann es zur Hyperreaktivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA) und des sympathischen Nervensystems (SNS) kommen. Es wird vermehrt Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin produziert. Diese Cortisolüberproduktion sowie die Dauerkativierung des SNS kann Insulinresistenzen, ein metabolisches Syndrom und Diabetes mellitus Typ 2 begünstigen. Gleichzeitig kann eine Überproduktion von Cortisol die Neurogenese im Hippocampus stören, was sowohl die Genese von Depression als auch Diabetes fördert.3
Komorbidität von Depression bei Diabetes im Praxisalltag erkennen
Sowohl ein Diabetes als auch Depressionen können die Lebensqualität für die betroffenen Personen reduzieren. Umso stärker ausgeprägt ist dieser negative Einfluss beim Vorliegen einer Komorbidität der beiden Erkrankungen. Daher sollten möglichst beide Erkrankungen erkannt und behandelt werden. In der Realität bleibt die Depression leider häufig unentdeckt und damit unbehandelt. Betroffene konsultieren den Arzt oder die Ärztin mitunter aufgrund von unspezifischen körperlichen Beschwerden wie Schwäche, erhöhte Ermüdbarkeit, Schlafstörungen, Appetitverlust oder Gewichtsabnahme. Bei diesen Beschwerden sollte eine Depression differentialdiagnostisch immer in Betracht gezogen werden. Zudem sollte bei schweren Hypoglykämien geprüft werden, ob sie Ausdruck eines Suizidversuches oder selbstschädigenden Verhaltens im Rahmen einer depressiven Störung sein könnten.1
Folgende Screeningfragen für Depressionen haben sich laut S2-Leitlinie Psychosoziales und Diabetes für den Praxisalltag bewährt:
- Fühlten Sie sich während der letzten zwei Wochen gedrückt, niedergeschlagen oder hoffnungslos?
- Haben Sie während der letzten zwei Wochen Freude oder Interesse an Ihren Tätigkeiten verloren, die Ihnen gewöhnlich Freude machen?
Die Behandlung der komorbiden Depression
Die Therapie der komorbiden Depression soll nicht nur die seelische Belastung der Betroffenen verringern, sondern auch deren Lebensqualität steigern, die Bewältigung der somatischen Erkrankung verbessern und das Gesundheitsverhalten der Person positiv verändern. Als Alternative oder Ergänzung zur mitunter nebenwirkungsbehafteten Psychopharmakotherapie sollte laut S2-Leitlinie Psychosoziales und Diabetes Betroffenen mit leichter bis schwerer Depression eine Psychotherapie angeboten werden (Empfehlungsgrad A). Mehrere Studien weisen darauf hin, dass eine kognitive Verhaltenstherapie einen deutlichen Rückgang der depressiven Symptomatik und gleichzeitig eine verbesserte diabetische Stoffwechseleinstellung erzielen kann.
Bisher stehen nur wenige Psychotherapieplätze zur Verfügung, die speziell an die Bedürfnisse von Betroffenen mit einem komorbiden Diabetes mellitus angepasst sind. Eine Behandlungsoption bietet die Digitale Gesundheitsanwendung HelloBetter Diabetes. Dieses psychologische Online-Therapieprogramm basiert auf Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie und kann Betroffene dabei unterstützen, depressive Beschwerden und psychische Belastungen im Zusammenhang mit dem Diabetes zu verringern. In einer mit dem Programm durchgeführten, randomisiert kontrollierten Studie6 konnte bei 62% der Teilnehmenden eine substanzielle Verbesserung der depressiven Symptome nachgewiesen werden. Wie Sie digitale Gesundheitsanwendungen verschreiben können, erfahren Sie in unserem Leitfaden für Digitale Gesundheitsanwendungen und auf unserem Fachblog.
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Quellennachweis
- Kulzer, B., Albus, C., Herpertz, S., Kurse, J., Lange, K., Lederbogen, F., Petrak, F. S2-Leitlinie Psychozoziales und Diabetes. Georg Thieme Verlag. Stuttgart. doi: 10.1055/s-0033-1335785
- Deutscher Gesundheitsbericht Diabetes 2021. Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe. Abgerufen von: https://www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de/fileadmin/user_upload/06_Gesundheitspolitik/03_Veroeffentlichungen/05_Gesundheitsbericht/20201107_Gesundheitsbericht2021.pdf
- Bădescu, S., Tătaru, C., Kobylinska, L., Georgescu, E., Zahiu, D., Zăgrean, A., Zăgrean, L (2016). The association between Diabetes mellitus and Depression. Journal of Medicine and Life, volume 9, page 120-125.
- Gläßer, E., Krampen, G., Schaan, W (2004). Zur Komorbidität von Diabetes mellitus und depressiven Störungen. ReportPsychologie, Ausgabe 7/8.
- Moulton, C., Pickup, J., Ismail, K (2015). The link between depression and diabetes: the search for shared mechanisms. Lancet Diabetes Endocrinol, volume 3, page 461-71. doi: http://dx.doi.org/10.1016/ S2213-8587(15)00134-5
- Nobis, S., Lehr, D., Ebert, D. D., Baumeister, H., Snoek, F., Riper, H. & Berking, M. (2015). Efficacy of a Web-Based Intervention With Mobile Phone Support in Treating Depressive Symptoms in Adults With Type 1 and Type 2 Diabetes: A Randomized Controlled Trial. Diabetes Care, 38(5), 776–783. https://doi.org/10.2337/dc14-1728
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