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Risikomanagement bei DiGA: Wie sicher sind psychologische Online-Therapieprogramme?

Digitale Gesundheitsanwendungen halten zunehmend Einzug in die Praxis. Viele der Programme dienen hierbei der Behandlung psychischer Erkrankungen. Für Verschreibende und Patientinnen bestehen neben Fragen zur Wirksamkeit oder den Kosten einer DiGA oft auch Unsicherheiten hinsichtlich der Sicherheit digitaler Anwendungen. Wie gehen digitale Gesundheitsanwendungen beispielsweise mit Suizidalität, einer Symptomverschlechterung oder technischen Problemen um?  In diesem Artikel möchten wir uns dem Risikomanagement Digitaler Gesundheitsanwendungen widmen. Wir klären, was sich genau hinter dem Begriff verbirgt und stellen dar, wie Risiken in der Praxis identifiziert, eingeschätzt und minimiert werden.

Was sind Digitale Gesundheitsanwendungen?

Unter Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) werden Medizinprodukte verstanden, deren Hauptfunktion auf digitaler Technologie beruht. In ihrer Funktion unterstützen sie bei der Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten. Im Bereich psychischer Erkrankungen handelt es sich hierbei oft um Online-Therapieprogramme oder Apps, die aus mehreren Einheiten bestehen und Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie vermitteln. Weitere Informationen über die Inhalte und den Einsatz von Digitalen Gesundheitsanwendungen in der Praxis finden Sie in unserem Fachblog (z. B. in unserem umfassenden Leitfaden zu Digitalen Gesundheitsanwendungen).

Um eine DiGA-Zertifizierung zu erhalten, müssen die Anwendungen einen umfangreichen Zulassungsprozess des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) durchlaufen. Als DiGA zugelassen werden können nur Medizinprodukte der Risikoklasse I oder IIa. 

Risikoklasseneinteilung

Alle Medizinprodukte werden in der Europäischen Union gemäß der Medizinprodukteverordnung (MDR) in vier Risikoklassen eingeteilt. Die Einordnung erfolgt anhand festgelegter Klassifizierungsregeln und wird hauptsächlich durch den potenziellen Schaden bestimmt, der durch einen Fehler oder Funktionsausfall des Medizinproduktes verursacht werden kann.1 Die Risikoklassen reichen von Klasse I über IIa und IIb bis Klasse III. Während Produkte der Klasse I ein vergleichsweise geringes Risiko darstellen (z.B. Verbandsmaterial), bergen Produkte der Klasse III ein höheres Risiko für Patient:innen (z. B. aktive Implantate). Als Digitale Gesundheitsanwendungen können nur Medizinprodukte der Risikoklasse I oder IIa zertifiziert werden, die demnach den niedrigeren Risikoklassen angehören.

Die Risikoklasseneinteilung orientiert sich nicht an der Leistungsfähigkeit oder Wirksamkeit eines Produktes. Sie erfolgt ausschließlich auf der Basis des potenziellen Schadens, der für Patienten entstehen kann.

DiGA: Anforderungen an die Patientensicherheit

Um als Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) zugelassen zu werden, muss eine Vielzahl an Bestimmungen erfüllt sein, die unter anderem die Wirksamkeit, Nutzerfreundlichkeit, Einhaltung des Datenschutzes oder Interoperabilität des Produktes belegen. Gleichsam legt das BfArM umfassende Anforderungen an die Patientensicherheit fest. Als Medizinprodukte sind alle DiGA verpflichtet, ein umfangreiches Risikomanagementsystem einzurichten, zu dokumentieren, anzuwenden und aufrechtzuerhalten. Also Orientierung dient hierbei die Norm ISO 14971, in der die Anforderungen an ein Risikomanagement geregelt sind.2

Risikomanagement bei DiGA

Durch das Risikomanagement wird gewährleistet, dass ein Medizinprodukt für Patientinnen, Anwender und die Umwelt sicher ist. Das Risikomanagement umfasst eine umfangreiche Planung, systematische Risikoanalyse, -bewertung und -kontrolle (siehe Abbildung). 

Übersicht des Ablaufs des DiGA Risikomangement

1Planung des Risikomanagements

Zu Beginn jedes Risikomanagements steht eine umfangreiche Planung der Prozesse. Im Risikomanagementplan, der für jede DiGA erstellt werden muss, werden der Umfang der geplanten Riskomanagementaktivitäten, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten sowie Anforderungen an die Überprüfung der Risikotätigkeiten festgehalten. Zudem legt der Hersteller fest, wann ein Risiko als vertretbar gilt.

Welches Risiko ist bei DiGA vertretbar?

Dass Medikamente Risiken und Nebenwirkungen aufweisen, ist hinlänglich bekannt und kann in der Regel dem Beipackzettel entnommen werden. Auch die systematische Erfassung möglicher negative Effekten durch Psychotherapie gewinnt in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung3,4. Der völlige Ausschluss aller Risiken und Nebenwirkungen ist bei DiGA genauso wenig möglich wie bei Arzneimitteln oder Psychotherapie. Doch welche Risiken können als akzeptabel betrachtet werden? 

Kriterien hierfür legen die Hersteller vorab im Risikomanagementplan fest. Hierbei spielen zwei Faktoren eine entscheidende Rolle: die Auftretenswahrscheinlichkeit und die Schwere eines potentiellen Schadens.

Das Risiko ist definiert als die Kombination der Auftretenswahrscheinlichkeit und des Schweregrades eines Schadens. Ein Schaden ist die physische Verletzung oder Beeinträchtigung der Gesundheit einer Person, Gütern oder der Umwelt.

Für beide Bereiche werden Kategorien festgelegt und definiert (z. B. mehr als 1 von 10 Patienten = häufige Auftretenswahrscheinlichkeit; keine oder geringe Beeinträchtigung = geringe Schwere des Schadens). In der entstehenden zweidimensionalen Matrix werden Bereiche festgelegt, in denen Risiken als akzeptabel bzw. nicht mehr vertretbar gelten (siehe Abbildung 2). So können Risiken mit hoher Auftretenswahrscheinlichkeit bei einer geringen Schwere des Schadens noch als akzeptabel einzustufen sein, wohingegen dieselbe Auftretenswahrscheinlichkeit bei einem potentiell hohen Schweregrad als inakzeptabel gilt. 

Abschätzung des Schadens beim DiGA Risikomanagement

2Risikoanalyse

Für jede DiGA muss eine umfassende Risikoanalyse durchgeführt werden. In diesem Zuge wird dokumentiert, welche Fehler oder Fehlanwendungen bei einer bestimmungsgemäßen Verwendung vernünftigerweise zu erwarten sind. Der Hersteller ermittelt im Zuge der Risikoanalyse alle nach vernünftigem Ermessen vorhersehbaren Abfolgen oder Kombinationen von Ereignissen, die zu einer gefährlichen Situation führen können und dokumentiert den zu erwartenden Schaden. Im Anschluss wird die Auftretenswahrscheinlichkeit und Schwere des potentiellen Schadens ermittelt, aus der sich das jeweilige Risiko ergibt. 

Beispiel einer möglichen Ereignisabfolge, Gefährdung und Schaden: Jemand, mit einer psychischen Erkrankung, für deren Behandlung die DiGA nicht geeignet ist, durchläuft das Online-Programm. Dadurch bleibt der erwartete positive therapeutische Effekt aus und es kann zu einer Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes kommen.  

Beim Einsatz digitaler Interventionen zur Behandlung psychischer Erkrankungen können unterschiedliche Risiken angenommen werden. So können Nebenwirkungen auftreten, die auch aus dem natürlichen Verlauf einer Face to Face Behandlung bekannt sind (z. B. Erstverschlimmerung der Symptome zu Behandlungsbeginn). Bestimmte psychotherapeutische Bausteine bergen zudem individuelle Risiken. Im Rahmen von Konfrontationsübungen kann es beispielsweise vorübergehend zu unangenehmen Gefühlen und körperlichen Missempfindungen wie Herzrasen, Schwindel oder Übelkeit kommen. Für bestimmte Personengruppen (z.B. schwere Herz-Kreislauferkrankungen) sind entsprechende Übungen nicht oder nur nach ärztlicher Absprache indiziert. 

Weitere mögliche Risiken können durch Anwendungs- oder Funktionsfehlern entstehen (z.B. indem Nutzerinnen die Übungen nicht in intendierter Form durchführen oder sich aufgrund technischer Fehler nicht in die App einwählen können).

3Risikobewertung

Alle ermittelten Risiken werden im Zuge der Risikobewertung in die vorab festgelegte Risikomatrix eingeordnet. Auf dieser Grundlage wird für jedes Risiko bestimmt, ob es vertretbar oder inakzeptabel ist. 

4Risikokontrolle

Ein essenzieller Baustein des Risikomanagements ist die Risikokontrolle. Ziel ist es, die Risiken auf ein annehmbares Maß zu reduzieren. Hierfür legt der Hersteller entsprechende Risikokontrollmaßnahmen fest. Dabei werden nicht nur die als inakzeptabel eingestuften Risiken adressiert. Auch für bereits vertretbare Risiken werden Kontrollmaßnahmen definiert, wenn anzunehmen ist, dass sie das Risiko effektiv mindern.

Aus jeder Risikokontrollmaßnahme können wiederum neue Gefahren entstehen. Dies muss immer geprüft und ggf. adressiert werden. 

Zur Risikominimierung bei Digitalen Gesundheitsanwendungen wird eine Vielzahl an Kontrollmaßnahmen installiert. Ein wichtiger Baustein ist das Festlegen von Indikationen und Kontraindikationen. Durch klar kommunizierte Ausschlusskriterien können sowohl Sie als Behandelnde als auch Ihre Patientinnen erkennen, für wen die Anwendung geeignet bzw. nicht geeignet ist (z. B. bei Suizidalität oder bestimmten Komorbiditäten).

Alle Indikationen und Kontraindikationen können der Gebrauchsanweisung des Produktes entnommen werden. Zudem sind sie im DiGA-Verzeichnis unter der jeweiligen Anwendung klar einsehbar.

Auch in der Intervention selbst kann das Bereitstellen von Informationen zu weiterführenden Hilfsangeboten oder zusätzliche Warnhinweise vor entsprechenden Übungen eine ergänzende Risikokontrollmaßnahme darstellen (z. B. vor Expositionsübungen). Teilnehmende sollten klar erkennen können, wann eine Rücksprache mit einem Arzt oder einer Psychotherapeutin oder gar ein Abbruch der Nutzung einer DiGA erfolgen sollte. 

Um auf eine Verschlechterung psychischer Beschwerden, Suizidalität oder Schwierigkeiten in der Umsetzung der Übungen eingehen zu können, ist ein weiterer wesentlicher Aspekt der Patientensicherheit die menschliche Begleitung.

Menschliche Begleitung bei HelloBetter

Alle HelloBetter Online-Therapieprogramme können nur mit menschlicher Begleitung durchgeführt werden. Dies wird durch approbierte Psychotherapeutinnen oder Psychologen in fortgeschrittener Psychotherapieausbildung gewährleistet. Zur Sicherstellung der Qualität finden regelmäßig themenspezifische Schulungen zum Beispiel zum Umgang mit Suizidalität sowie fortlaufend Inter- und Supervisionen statt. Jeder Patient wird den gesamten Verlauf des Online-Therapieprogramms durch dieselbe Person begleitet. Die Teilnehmenden erhalten nach jeder absolvierten Kurseinheit ein schriftliches Feedback und können sich auch zwischen den Einheiten per Nachrichtenfunktion an ihre Ansprechperson wenden. Eine Rückmeldung erfolgt innerhalb von 24 Stunden.

Die menschliche Begleitung stellt einen wichtigen Baustein in der Patientensicherheit all unserer Therapieprogramme dar. Die ausgebildeten Psychologinnen lesen die Nachrichten und Eintragungen der Teilnehmenden im Kurs und können so auf die individuelle Situation der Patienten eingehen. Sie haben zudem Einsicht in die regelmäßig auszufüllenden Symptomchecks und Stimmungstagebücher. Auf eine Verschlechterung der Symptomatik, Unsicherheiten bei der Durchführung der Interventionen oder auftretenden Krisen kann so zeitnah reagiert und auf entsprechende Hilfsangebote verwiesen werden.

5Bewertung des Restrisikos

Nach Festlegung, Umsetzung und Verifizierung geeigneter Maßnahmen zur Risikominderung wird für jedes Risiko die Risikoakzeptanz erneut bewertet. Durch entsprechende Maßnahmen wie Kontraindikationen, Warnhinweise oder menschliche Begleitung kann die Auftretenswahrscheinlichkeit bestimmter Schäden sinken. Dadurch reduziert sich auch das Risiko. Die verbleibenden Restrisiken und das Gesamt-Restrisiko sollten als akzeptabel eingestuft werden. Der Nutzen des Medizinproduktes sollte die verbleibenden Risiken übertreffen (Nutzen-Risiko-Abwägung).

6Risikomanagement bei DiGA nach der Entwicklung

Risikomangement endet nicht mit dem Inverkehrbringen eines Produktes. Mittels Post-Market Surveillance werden Daten nach der Inverkehrbringung eines Produktes gesammelt, analysiert und verwendet, um notwendige Korrektur- und Vorbeugemaßnahmen abzuleiten. Dabei gilt es zum einen zu überprüfen, ob die installierten Risikokontrollmaßnahmen wirken. Zum anderen wird kontinuierlich ermittelt, ob neue Risiken entstehen oder die Auftretenswahrscheinlichkeit oder Schwere bereits ermittelter Risiken angepasst werden müssen. Risikomanagement bei DiGA ist damit kein einmaliger, sondern ein kontinuierlicher Prozess während des gesamten Lebenszyklus eines Produkts. Die Hersteller sind verpflichtet, diesen Prozess regelmäßig zu pflegen und zu aktualisieren.1

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass an DiGA-Hersteller umfangreiche Anforderungen bezüglich der Patientensicherheit gestellt werden, die im Zuge des Risikomanagements adressiert werden. Damit stellen DiGA nicht nur eine wirksame, sondern auch sichere Behandlungsmöglichkeit für psychische Erkrankungen dar.Wenn Sie zusätzliche Informationen darüber erhalten möchten, wie Sie DiGA in die ärztliche Behandlung integrieren, die richtige DiGA finden oder eine DiGA verordnen können, finden Sie auf unserem Fachblog weiterführende Artikel.

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  • Quellennachweis
    1. Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte (https://lexparency.de/eu/MDR/ANX_VIII/)
    2. DIN EN ISO 14971:2019 Medizinprodukte – Anwendung des Risikomanagements auf Medizinprodukte 
    3. Herzog P, Lauff S, Rief W, Brakemeier EL. Assessing the unwanted: A systematic review of instruments used to assess negative effects of psychotherapy. Brain Behav. 2019 Dec;9(12):e01447. doi: 10.1002/brb3.1447. Epub 2019 Oct 24. PMID: 31647202; PMCID: PMC6908878
    4. Fenski F, Rozental A, Heinrich M,  Knaevelsrud C, Zagorscak P, Boettcher J. (2021). Negative effects in Internet-based interventions for depression: A qualitative content analysis. Internet Interventions. 26. 100469. 10.1016/j.invent.2021.100469.
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