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Nein sagen: eine Kunst für sich

Könntest du diese Aufgabe bitte heute noch schnell erledigen? Hat das Essen geschmeckt? Würdest du mir dieses Wochenende beim Umzug helfen? Aus Angst, als faul, unhöflich oder egoistisch zu gelten, scheint es oft nur eine Antwort auf solche Fragen zu geben: Ja.

Dabei hast du ein Recht darauf, auch mal „Nein” sagen zu können. Die Kunst des Nein-sagens kommt uns aber meistens im Laufe unseres Lebens immer mehr abhanden. Dabei kann sie uns helfen, uns selbst und unsere Bedürfnisse zu schützen, selbstsicherer und zufriedener durchs Leben zu gehen. Wie das geht und warum wir so oft „Ja” sagen, erfährst du in diesem Artikel.

Ein kleines Wort mit großer Bedeutung 

Wenn ein Kind sein erstes Wort spricht, wird dies meist von der ganzen Familie bejubelt. Ein Meilenstein. Nach und nach erweitert sich der Wortschatz und endlich muss nicht mehr ins Blaue geraten werden, was das Kind wohl möchte. Man kann sich mehr und mehr verständigen.

Wenn das Wort „Nein” seinen Platz im Wortschatz findet, hat das noch einmal eine besondere Bedeutung. Denn in diesen vier Buchstaben steckt, wie in sonst kaum einem anderen Wort, die Kraft der Selbstbestimmung. Die Möglichkeit eigene Bedürfnisse und Wünsche zu äußern und Grenzen zu setzen

Nein sagen lernen auf dem Weg zur Selbstständigkeit 

Die meisten Kinder erleben irgendwann zwischen ihrem zweiten und vierten Lebensjahr eine Entwicklungsphase, in der sie sich mit eisernem Willen und dem ein oder anderen emotionalen Ausbruch, den Weg zu mehr Selbstständigkeit erkämpfen. In dieser sogenannten Trotzphase können Kinder das Nein sagen geradezu perfektionieren und auf ein ganz neues Level heben. 

 „Kannst du bitte deine Schuhe anziehen?“ – „Nein.“, „Kannst du bitte dein Gemüse essen?“ – „Neeein“, „Räumst du bitte deine Spielsachen weg?“ – „Neeeein“. 

Der Unterschied zwischen Fragen und Aufforderungen

Eltern antworten auf das Nein sagen des Kindes nur selten mit „Na gut, ok“, um dann mit ihm barfuß aus dem Haus zu gehen, wenn es seine Schuhe nicht anziehen möchte. 

Bei genauerer Betrachtung müssen wir uns eingestehen, dass bestimmte Fragen eher rhetorischer Natur sind. In ihnen steckt kein Spielraum für ein Nein. Eigentlich handelt es sich um eine Aufforderung, die sich in Gestalt einer Frage präsentiert. Also: „Zieh bitte deine Schuhe an” statt „Kannst du bitte deine Schuhe anziehen?”. Das Nein des Kindes wird dann vom Gegenüber nicht akzeptiert und das Anziehen der Schuhe unter mehr oder weniger Gezeter durchgesetzt. 

Das Kind lernt durch solche Situationen also, dass Nein sagen weder in allen Fällen sozial erwünscht ist, noch akzeptiert wird. Wenn es nun älter wird, zur Schule geht, bei Freunden oder in der Familie ist, wird hingegen schnell klar: Ja zu sagen ist gern gesehen und hat nur selten negative Konsequenzen. Auf diese Weise entsteht ein Ungleichgewicht zugunsten des Ja-sagens.

Nicht nur bei Kindern, auch unter Erwachsenen stellen wir oft Fragen, obwohl wir eigentlich eine Aufforderung meinen. „Könntest du den Geschirrspüler ausräumen?“. „Ist dir auch kalt?“. Achte in deinem Alltag einmal darauf, wie oft du Fragen stellst, bei denen du ganz automatisch von einem Ja” als Antwort ausgehst, oder deine Frage eigentlich einen Auftrag beinhaltet. Würdest du auch ein Nein” akzeptieren?

Warum wir so gerne Ja sagen

„Ja” zu sagen wird also bereits seit unserer Kindheit bestärkt und gilt als sozial erwünschter. Oft sind es aber auch Befürchtungen, die das Nein sagen erschweren. Was würde passieren, wenn du die Frage deines Vorgesetzten, ob du die zusätzliche Aufgabe noch heute erledigen kannst, mit „Nein” beantworten würdest? 

Zum einen ist da die Vermutung, dass es sich auch hier nur um eine rhetorische Frage handelt und die Erledigung der Aufgabe eigentlich von dir verlangt wird. Zum anderen möchtest du vielleicht nicht den Eindruck erwecken, überfordert oder faul zu sein. 

Der Wunsch nach sozialen Beziehungen

Auch der Wunsch, dazuzugehören und Beziehungen aufrechtzuerhalten, spielt eine Rolle dabei, warum wir das Nein sagen häufig vermeiden. Wenn dich jemand um einen Gefallen bittet, hat die Tendenz zum „Ja” auch etwas mit der Angst zu tun, Beziehungen durch ein „Nein” zu gefährden oder nicht gemocht zu werden. 

Wir möchten den anderen nicht verletzen oder vor den Kopf stoßen. Sagen wir doch mal „Nein” und spüren, dass dem anderen diese Antwort missfällt, fühlen wir uns häufig schuldig. Dieses negative Gefühl auszuhalten haben wir oft genauso verlernt wie das „Nein” sagen selbst.  

Warum ist Nein sagen lernen so wichtig?

„Ja” zu sagen wird von Kindheit an belohnt und scheint allgemein anerkannter. Warum dann nicht einfach mit dem Strom schwimmen? Warum sollten wir „Nein” sagen lernen und trainieren, wenn es doch so ungern gesehen wird?

Nein-sagen hat viele Vorteile. Es bedeutet,…

…auf deine Bedürfnisse und Wünsche zu achten, wenn du etwas ablehnst, das du eigentlich gar nicht möchtest. Das ist ein Zeichen von Selbstfürsorge.

…Grenzen zu setzen. 

…dich nicht zu überlasten. Wenn du alle Aufgaben, Bitten und Wünsche annimmst, kann das schnell zu einer Überforderung führen.

 …Ja zu etwas anderem zu sagen. Wenn du zum Beispiel „Nein” zu einer Aufgabe sagst, sagst du gleichzeitig „Ja” dazu, etwas anders zu tun. Zum Beispiel zur Ruhe zu kommen oder Dingen nachzugehen, die dir Spaß machen.

Nein sagen braucht keine Erklärungen

Ein „Nein” kommt selten allein. In den meisten Fällen lassen wir eine Erklärung folgen: „Hat das Essen geschmeckt?“ „Nein, leider hat mir das Essen nicht so gut geschmeckt. Aber wahrscheinlich liegt es an den Gewürzen, ich bin da sehr empfindlich.“ 

Durch eine Erklärung versuchen wir das Nein abzuschwächen. Wir haben den Wunsch, doch noch zu verhindern, dass der andere sich verletzt fühlt. Also möchten wir uns gerne erklären, was jedoch gar nicht nötig ist. Wir brauchen nicht immer einen Grund, um „Nein” zu sagen. 

Auf die Frage des Kellners mit einem bloßen „Nein” zu antworten kann sich jedoch etwas komisch anfühlen. Eine Möglichkeit ist es, dein Bedauern darüber auszudrücken, ohne dich zu erklären („Nein, es hat mir leider nicht geschmeckt“). Wenn es sich für dich besser anfühlt kannst du auch eine Alternative oder einen Kompromiss anbieten („Nein, es hat mir leider nicht geschmeckt. Aber ich komme gerne noch einmal wieder und probiere etwas anderes auf der Karte.“).

Übung macht den Meister

Trainiere Nein-sagen bewusst im Alltag, auch wenn sich das erst einmal ungewohnt anfühlt. Versuche dich z.B. einfach das nächste Mal bei einem aufdringlichen Verkäufer mit einem beharrlichen „Nein”.

Nimm dir aber ruhig Zeit, bevor du eine Antwort gibst. Du darfst sagen „Darüber muss ich kurz nachdenken“, und in dich hineinhorchen. Möchtest du das wirklich? Was würde schlimmstenfalls passieren, wenn du „Nein” sagst? Was sagt dir dein Bedürfnis? 

Du wirst sehen, je öfter du „Nein” sagst, desto leichter wird es dir fallen. 

Sollst du jetzt nur noch Nein sagen? 

Nein. Der Schlüssel liegt darin, eine Balance zwischen den eigenen Wünschen und Bedürfnissen sowie den Bedürfnissen anderer zu finden. Das erfordert eine Welt, in der sowohl ein „Ja” als auch ein „Nein” seinen Platz hat, akzeptiert und wertgeschätzt wird. Du kannst dazu einerseits beitragen, indem du dir die innere Erlaubnis gibst, an manchen Stellen „Nein” zu sagen. Andererseits kannst du ein Vorbild sein, indem du das „Nein” anderer akzeptierst und es nicht in Frage stellst.

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