Was ist Alltagspsychologie? Definition der Pop-Psychologie erklärt
Wir Menschen haben ein tief in uns verankertes Bedürfnis danach, die Welt zu verstehen, zu begreifen, kontrollieren oder vorhersagen zu können. Das ist vermutlich unserem vom Epstein 1994 definierten Grundbedürfnis nach Orientierung und Kontrolle zuzuschreiben und es macht aus evolutionspsychologischer Sicht auch Sinn: Wer die Welt besser versteht, kann Gefahren schneller erkennen, vorausschauender handeln und letztlich das eigene Überleben sichern.
Dieses Streben nach Wissen und Verständnis betrifft nicht nur Naturphänomene oder praktische Alltagsprobleme, sondern ganz besonders auch unser zwischenmenschliches Miteinander und die menschliche Psyche. Schließlich sind soziale Beziehungen und das Zusammenleben in Gruppen für uns Menschen überlebenswichtig – von unterstützender Zusammenarbeit bis hin zur Vermeidung oder Lösung von Konflikten.
Es ist also keine Überraschung, dass psychologische Themen bei uns schon immer großes Interesse wecken. Ob es um Partnerschaft, Kindererziehung, Erfolg oder psychische Gesundheit geht: Fragen aus diesen Themengebieten beschäftigen uns tagtäglich, sie betreffen uns persönlich und wir wünschen uns Antworten, die uns im Leben weiterhelfen. Genau hier kommt die Alltagspsychologie ins Spiel:
Die sogenannte Alltagspsychologie (auch Pop-, Laien- oder Küchenpsychologie genannt) versucht, psychologisches Wissen – ganz allgemein oder auch bezüglich psychischer Erkrankungen – für den Alltag greifbar zu machen und menschliches Verhalten damit vereinfacht erklären zu können.
Eigentlich also eine gute Idee und grundsätzlich ist es doch super, dass besonders Themen rund um psychische Erkrankungen eine größere Sichtbarkeit erlangen, oder?
Wäre da nicht dieses kleine Problem …
Warum wir mit unseren Einschätzungen oft falsch liegen
Wir Menschen sind nun wirklich nicht die geborenen Wissenschaftler:innen (nicht despektierlich gemeint). Wir tendieren beispielsweise dazu, Wahrscheinlichkeiten zu unter- oder überschätzen (dazu findet ihr übrigens ganz viel Forschung von Tversky und Kahneman). Außerdem lassen wir uns stark von Einzelfällen, sogenannten anekdotischen Beweisen, beeinflussen oder interpretieren Beobachtungen häufig mit einem Bestätigungsfehler, auch als Confirmation Bias bekannt – also meist zugunsten unserer zugrunde liegenden Erwartungshaltung.
» Wir neigen dazu, zu überschätzen, wie viel wir von der Welt verstehen, und zu unterschätzen, welche Rolle der Zufall bei Ereignissen spielt. «
— Daniel Kahneman (Psychologe) in: Schnelles Denken, langsames Denken.
Informationen werden selten neutral weitergegeben. Stattdessen verbreiten wir häufig das, was besonders emotional ist oder für Gesprächsstoff sorgt – sei es im Alltag oder durch Algorithmen in sozialen Medien. Gerade solche zugespitzten Aussagen werden geteilt, geliked und wiederholt. So entstehen und halten sich psychologische Mythen in der Mitte unserer Gesellschaft: Hallo Populärpsychologie.
Na, bist du vielleicht auch schon pop-psychologischen bzw. alltagspsychologischen Märchen verfallen? Alltagspsychologie ist allgegenwärtig. Schau mal, wie viele der folgenden Aussagen du schon mal gehört (oder geglaubt) hast:
- Menschen mit Autismusspektrumsstörung haben meistens eine Inselbegabung.
- Gegensätze ziehen sich an.
- Wer nach oben links (oder rechts) schaut, lügt.
- Schizophrenie bedeutet, multiple Persönlichkeiten zu haben.
- Der Mensch nutzt nur 10 % seines Gehirns.
Genug von der Pseudowissenschaft. Was macht denn nun den Unterschied zwischen Alltagspsychologie und echter Wissenschaft aus?
Alltagspsychologie vs. wissenschaftliche Psychologie – wer gewinnt?
Wir wissen doch wirklich viel über die menschliche Psyche, über unser Denken, unsere Gefühle und unser Verhalten – oder etwa nicht? Woran erkennen wir denn nun den Unterschied zwischen fundierter Wissenschaft und Alltagspsychologie?
Hier kommt eine kleine Gegenüberstellung im Überblick:
Wissenschaftliche Psychologie
Definition: Eine empirische Wissenschaft, die das Erleben und Verhalten von Menschen systematisch untersucht.
Merkmale: Arbeitet mit wissenschaftlichen Methoden (z. B. Experimente, Beobachtungen, Hypothesentests, validierte Fragebögen und statistische Auswertungen). Ergebnisse müssen überprüfbar, wiederholbar und nachvollziehbar sein.
Ziel: objektive, allgemeingültige und überprüfbare Erklärungen für psychische Phänomene finden.
Beispiel: In einer Studie wird gezielt getestet, ob Stress die Gedächtnisleistung beeinflusst – mit Kontrollgruppen und klaren Messinstrumenten.
Alltagspsychologie (Laien- oder Küchenpsychologie)
Definition: Nicht-wissenschaftliches Wissen und Annahmen über das Verhalten und Erleben von Menschen – meist basierend auf subjektiven Erfahrungen.
Merkmale: Beruht auf persönlichen Beobachtungen, Vorurteilen oder Traditionen. Erkenntnisse sind selten überprüft, oft nur zufällig richtig, aber auch häufig fehlerhaft oder widersprüchlich.
Ziel: Verhalten im Alltag schnell und pragmatisch erklären und vorhersagen.
Beispiel: Mythen wie „Wer früh aufsteht, ist fleißig“ oder „Frauen sind emotionaler als Männer.“
» Insbesondere Geschlechterstereotype dürften eine reichhaltige Quelle für die Sammlung von Mythen der Alltagspsychologie darstellen. Können Frauen tatsächlich schlechter einparken als Männer? Sind Männer grundsätzlich aggressiver als Frauen? Haben fast alle Frauen einen ‚Schuhfimmel‘? – Wir fragten nach dem Mythos, dass Frauen mehr reden als Männer. Einer Studie von Mehl und Kollegen (2007) zufolge sprechen beide Gruppen im Durchschnitt gleich viel, nämlich pro Tag etwa 16.000 Wörter. «
— Prof. Dr. Uwe Peter Kanning (2013), Psychologe und Professor an der Hochschule Osnabrück
Das Fazit zur Alltagspsychologie
Alltagspsychologie kann im Alltag Orientierung bieten und zum Beispiel psychischen Erkrankungen mehr Sichtbarkeit gegenüber einem breiten Publikum geben. Damit trägt sie dazu bei, dass Stigmatisierung psychisch kranker Menschen abgebaut wird. Manchmal kann sogar die wissenschaftliche Psychologie von Alltagspsychologie profitieren – Wissenschaftler:innen können auf Phänomene aufmerksam werden und diese dann im kontrollierten Rahmen untersuchen.
Aber: Alltagspsychologie bleibt subjektiv und fehleranfällig – bitte überprüfe die Quellen von psychologischen Inhalten. Achte in Online-Artikeln oder den sozialen Medien auf die Qualifikation der Person, die über entsprechende Themen aufklärt. Und sei besonders bei Trends vorsichtig. Nicht jede schwierige Beziehung ist gleich toxisch. Nur weil dein:e Ex–Partner:in schlecht mit dir umgegangen ist, ist sie oder er nicht gleich narzisstisch oder ein:e Psychopath:in und nur weil dich zwei unterschiedliche Socken nerven, hast du keine OCD (Zwangsstörung).
Alltagspsychologie, wo ist das Problem? Aus der Küche in die Köpfe.
Wir sehen inzwischen: Eine bedenkliche Welle der Pop-Psychologie überschwemmt gerade nicht nur unsere Alltagsdialoge, sondern auch die sozialen Medien. Ja, ist doch toll, dass Psychologie mehr Einzug in den gesellschaftlichen Diskurs hält, oder? Nicht ganz, denn Sprache ist mächtig und kann unser Denken, Fühlen und Handeln verändern.
Die alltagspsychologische Verwendung von Begrifflichkeiten ist nicht nur häufig fehlerhaft, sondern führt oft auch dazu, dass wir Begriffe im falschen Kontext oder viel zu häufig – also inflationär – verwenden. Dann werden Symptome gesehen, wo keine sind und Diagnosen gestellt, die jeglicher professionellen Diagnostik entbehren. So haben vermeintlich auf einmal alle ein Trauma, jede:r zweite ADHS oder eine Persönlichkeitsstörung.
Nutzen wir Begriffe wie Trigger oder Trauma inflationär, dann verwässern, pauschalisieren und verharmlosen wir mitunter ihre eigentliche Bedeutung. Bitte nicht falsch verstehen – die meisten Menschen erleben in ihrem Leben prägende negative Ereignisse. Trotzdem ist nicht alles ein Trauma.
Also, was jetzt? Lasst uns versuchen, diese Begriffe etwas bedachter zu verwenden. Noch mal reflektieren, ob gerade etwas wirklich einfach hart nervt oder ein echter Trigger sein könnte. Ob die Partnerin wirklich eine Narzisstin ist oder einfach in einer ätzenden Art mit Konflikten umgeht. Ob wir (Achtung Buzzword) transgenerative Traumata in uns tragen oder einfach viel Prägendes durch unser Umfeld erlebt haben.
Ganz wichtig: Hier soll nichts relativiert werden. All diese Begriffe haben ihre Daseinsberechtigung, denn es gibt so viele Menschen mit „echten” Traumata, die wirklich getriggert werden und Flashbacks erleben, Menschen mit OCD und Menschen in toxischen Beziehungen. Genau für diese Menschen ist ein achtsamer Umgang mit dem Pop-Psychologie-Buzzword-Bingo aus der Alltagspsychologie so wichtig.
Wie kann ich am besten mit alltagspsychologischen Mythen umgehen? 3 wichtige Schritte:
Alltagspsychologische Mythen sind unumgänglich und im Zeitalter von KI, Filterblasen und Fake-News gilt es einfach, besonders gründlich hinzuschauen. Nur wie gelingt uns ein verantwortungsvoller und kritischer Umgang mit pop-psychologischen Phänomenen?
1 Werde zum Mythen-Detektiv
Was ist überhaupt Narzissmus? Was ein Trauma? Warum ist der Begriff Neurodiversität auf einmal präsent in einigen Instagram-Bios? Hinterfrage Trendbegriffe kritisch und recherchiere, was wirklich dahintersteckt. Alltagspsychologie ist nicht gleich wissenschaftliche Psychologie und du kannst den Unterschied herausfinden, indem du zuverlässige Quellen hinzuziehst. Schaue zum Beispiel im offiziellen Diagnosemanual dem ICD-10, ICD-11 oder DSM-5, was die genauen Diagnosekriterien sind. Kleiner Trick: Diese findest du sogar bei Google oder du kannst sie dir von ChatGPT herausgeben lassen. Wichtig: Auch ChatGPT kann einige Fehler machen – nutze diese Unterstützung also auch mit Vorsicht. Nicht alles, was plausibel klingt, ist auch wissenschaftlich belegt.
2 Folge echten Expert:innen
Vielleicht kannst du deinen Social Media Feed kritisch hinterfragen und primär Menschen in den sozialen Medien vertrauen, deren wissenschaftlichen Hintergrund du kennst. Es gibt inzwischen so viele Menschen, die sich berufen fühlen, zu psychologischen Themen Ratschläge zu erteilen. Die wenigsten davon besitzen eine professionelle Ausbildung und den entsprechenden Hintergrund, den es nun mal braucht, um als vertrauenswürdige Quelle zu gelten. Das wird von vielen Menschen außer Acht gelassen und oberflächliche Merkmale wie ein charismatisches Auftreten, eine hohe Followerzahl und ein großes Mikrofon überschatten dann schnell die eigentlich fundamentale Inkompetenz. Lass dich davon nicht blenden.
Folge lieber Menschen, die Psychologie oder Medizin studiert haben, in der Forschung aktiv sind oder bestenfalls eine Approbation als psychologische:r Psychotherapeut:in absolviert haben.
3 Erkenne: Sprache ist Macht
Klar – psychologische Begrifflichkeiten sind in unserem alltäglichen Sprachgebrauch inzwischen fest angekommen und werden beinahe inflationär genutzt. Da wird aus einem „Das hat etwas mit mir gemacht” ein „Das hat mich krass getriggert”. Was sich einschleicht und cool klingt, kann viel mehr auslösen als zunächst gedacht. Denn Sprache formt unser Denken, unser Fühlen und Handeln. Versuche ganz bewusst deinen eigenen Alltagspsychologie-Sprachgebrauch zu reflektieren und auch andere darauf aufmerksam zu machen. Vielleicht fallen dir spannende neue Begriffe ein, die wir stattdessen verwenden können? Vielleicht kannst du auch dich selbst und andere daran erinnern, dass eben nicht alles toxisch, traumatisch oder triggernd ist, nur weil es jemand so benennt.
Gut gewappnet im Alltag
Das war’s mit unserem kleinen Exkurs in die Welt der Küchenpsychologie. Vielleicht konnten wir ein bisschen Licht ins Dunkel bringen, aufzeigen, warum wir den Drang haben, über psychologische Phänomene zu sprechen, was vertrauenswürdige Quellen ausmacht und welche Risiken sich hinter Trendbegriffen verbergen können.
Alltagspsychologie im HelloBetter Faktencheck
Zum Schluss haben wir noch einen kleinen Faktencheck vorbereitet, um den aktuell am meisten verbreiteten Alltagspsychologie Begriffen ein Schnippchen zu schlagen, Fakten aufzuklären und Mythen aufzuräumen.
Faktencheck
Trauma
Definition von Trauma
ICD-10 (Dilling, 2011):
Ein Trauma ist ein Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß, das bei fast jedem tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.
DSM-5 (APA, 2013):
Ein Trauma wird definiert durch eine direkte oder indirekte Konfrontation mit dem Tod, sei es tatsächlich oder auch angedroht, sowie mit schwerwiegenden Verletzungen oder sexueller Gewalt (Remschmidt, Mattejat & Warnke, 2020).
Moderne Definition von Entwicklungstrauma
Entwicklungstraumata (auch: komplexe Traumatisierung) können durch wiederholte chronische Belastungen oder Vernachlässigung während der Kindheit und Jugend entstehen – meist durch Bezugspersonen. Die Folgen können die gesamte Entwicklung, zum Beispiel Bindung, Selbstwert, Emotionsregulation und Identitätsbildung betreffen.
Van der Kolk (2014): Entwicklungstrauma entsteht, wenn ein Kind sich über längere Zeit unsicher, bedroht oder emotional allein fühlt. Dabei geht es nicht nur um offensichtliche Gewalt oder Vernachlässigung – auch subtilere Erfahrungen können das Nervensystem langfristig in eine permanente Alarmbereitschaft versetzen.
Faktencheck
Narzissmus
Definition von Narzissmus
ICD-10 (Dilling, 2011):
Narzissmus bezeichnet ein Persönlichkeitsmerkmal, das durch ein übersteigertes Selbstwertgefühl, ein starkes Bedürfnis nach Bewunderung und einen Mangel an Empathie gegenüber anderen gekennzeichnet ist.
Typische Anzeichen:
- Übermäßige Selbstbezogenheit
- Starkes Bedürfnis nach Anerkennung und Bewunderung
- Empfindlichkeit gegenüber Kritik
- Fehlende Empathie für Mitmenschen
- Manipulatives oder ausnutzendes Verhalten
Formen:
Gesunder Narzissmus: Ein gewisses Maß an Selbstliebe und Selbstachtung, das für das eigene Wohlbefinden wichtig ist. Pathologischer Narzissmus: Übersteigertes Selbstbild, das zu Problemen im sozialen Miteinander führt; kann als narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS) diagnostiziert werden. Achtung: im ICD-11 wird die Narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS) nicht mehr als eigene, separate Diagnose gelistet. Stattdessen wird sie unter dem Oberbegriff „Persönlichkeitsstörung" mit spezifischen Merkmalen (sog. „prominente Merkmale") eingeordnet.
Wichtig:
Narzissmus betrifft nur etwa 1–2 % der Bevölkerung. Nicht jede selbstbewusste oder selbstverliebte Person ist narzisstisch im pathologischen Sinn. Erst wenn das Verhalten dauerhaft und extrem ausgeprägt ist und zu Problemen im Alltag führt, spricht man von einer Störung.