Der Wahrnehmungsfilter im Gehirn
Im Alltag registrieren unsere Sinne viel mehr, als den meisten von uns letztlich bewusst wird. Dafür verantwortlich ist ein Wahrnehmungsfilter im Gehirn. Wie ein Pförtner sortiert dieser alle ankommenden Informationen vor und lässt nur wichtige oder neue Reize zur bewussten Weiterverarbeitung und Speicherung durch. Daher hört man beispielsweise nicht mehr den bekannten Straßenlärm vor der Haustür oder das Ticken des Weckers. Diese Reize sind nicht mehr wichtig, weil wir sie kennen und uns an sie gewöhnt haben. Somit schützt uns der Wahrnehmungsfilter davor, von zu vielen Reizen überflutet zu werden.
Was ist Hochsensibilität?
Bei Menschen mit Hochsensibilität funktioniert der Wahrnehmungsfilter ein bisschen anders als meist üblich. So bewertet der Pförtner viel mehr Informationen als wichtig und leitet diese entsprechend weiter. Mit diesem Phänomen beschäftigte sich erstmals die amerikanische Psychologin Elaine Aron in den 1990er-Jahren. Im Rahmen ihrer Forschungen hielt sie vier Merkmale fest, die eine „Highly Sensitive Person“ auszeichnen (deutsch: hochsensible/ hochsensitive Person; kurz HSP).
Wegen der englischen Bezeichnung „Highly Sensitive Person“ wird in der deutschsprachigen Wissenschaft meist von Hochsensitivität statt Hochsensibilität gesprochen. Umgangssprachlich findet man zudem auch den Begriff Hypersensibilität. Alle Begriffe können aber synonym verwendet werden.
1Sensorische Sensitivität
Menschen mit Hochsensibilität verfügen über eine niedrige sensorische Reizschwelle, das heißt sie können besonders viele und schwach ausgeprägte Sinneseindrücke wahrnehmen. Diese feine Wahrnehmung kann sich auf äußere (z.B. Gerüche, Geräusche), innere (z.B. eigene Gedanken, Gefühle) und soziale Reize (z.B. Stimmungen anderer) beziehen.
2Erhöhte emotionale und körperliche Reaktion auf Sinnesreize
In reizintensiven Situationen reagieren hochsensible Personen stärker und sind schneller überstimuliert (Überreizung). Das kann sich z.B. in intensiven positiven und negativen Gefühlen, aber auch in einer erhöhten Anspannung und Nervosität zeigen.
3Vertiefte Informationsverarbeitung
Menschen mit Hochsensibilität verarbeiten Sinneseindrücke sehr viel gründlicher. In der Reizübertragung gehen also weniger Informationen „verloren“. Das kann beispielsweise dazu führen, dass sie über Erlebnisse besonders lange nachdenken und das Wissen vertiefter abspeichern.
4Verhaltenshemmung
Das bedeutet, dass hochsensible Personen in neuen Situationen und bei neuen sozialen Kontakten oft beobachtend abwarten, bevor sie aktiv werden. Oder sie ziehen sich zurück, um einer möglichen Überreizung aus dem Weg zu gehen.
Bei der Hochsensibilität handelt es sich um keine psychische oder körperliche Erkrankung, sondern um eine ganz normale Variation in der Reizverarbeitung. Die oft erlebte Überreizung kommt also daher, dass das hochsensible Gehirn mehr Sinnesreize ungefiltert weiterleitet und somit auch verarbeiten muss. Hochsensibilität bedeutet also nicht, dass Menschen weniger Reize aushalten können.
Gibt es unterschiedliche Formen von Hochsensibilität?
Tagtäglich werden wir mit vielen verschiedenen äußeren, inneren und sozialen Reizen konfrontiert. Vor diesem Hintergrund erscheint es gut nachvollziehbar, dass es auch unterschiedliche Formen der Hochsensibilität gibt.
Sensorische Hochsensibilität
Menschen mit dieser Ausprägung nehmen verstärkt Sinnesreize aus der Außenwelt wahr. Dazu gehören vor allem Geräusche, Gerüche und Lichtverhältnisse.
Emotionale Hochsensibilität
Hier zeigen Menschen eine besonders ausgeprägte Wahrnehmung im zwischenmenschlichen Bereich. So nehmen sie beispielsweise sehr genau die Stimmung anderer Menschen wahr. Dazu bemerken und verarbeiten sie oft viele Einzelheiten in Mimik, Gestik, Körperhaltung und Tonfall ihres Gegenübers.
Kognitive Hochsensibilität
Bei dieser Ausprägung weisen Menschen wiederum ein starkes Gefühl für Logik und komplexe Zusammenhänge auf, da sie viele Sachverhalte eines Themas erfassen und beleuchten. Dazu gehört auch, dass Dinge sehr genau geplant, vorbereitet und alle Eventualitäten durchdacht werden.
Viele hochsensible Personen weisen in zwei oder mehr Bereichen besondere Ausprägungen auf. Meistens lässt sich aber ein Schwerpunkt in der Art der Hochsensibilität erkennen.
Die Hochsensibilität zeigt auch individuelle Schwankungen. Während manche Tage von Reizüberflutung und Rückzug geprägt sind, lässt der Wahrnehmungsfilter an anderen Tagen weniger durch, sodass es auch in den trubeligsten Situationen zu keiner Überreizung kommt.
Wie wird Hochsensibilität diagnostiziert?
Da es sich bei der Hochsensibilität um keine psychische oder körperliche Krankheit handelt, gibt es auch keine offizielle Diagnose. Erste Hinweise auf eine eventuell vorliegende Hochsensibilität liefert jedoch ein von Elaine Aron entwickelter Fragebogen, der auf einer Selbsteinschätzung beruht und die oben genannten Kriterien abfragt. Elaine Aron geht davon aus, dass etwa 20 % der Menschen und etwa gleich viele Frauen wie Männer hochsensibel sind.
Die Aussagekraft des Ergebnisses ist jedoch nicht immer eindeutig. So kann es beispielsweise auch bei anderen psychischen und körperlichen Erkrankungen zu einer Überreizung kommen. Bei einer Migräneattacke nehmen Betroffene z.B. Lichtreize sehr viel stärker wahr. Und auch bei einer Depression fühlen sich Betroffene von äußeren Einflüssen oft überfordert und überreizt.
Einige Fachleute zweifeln an, dass es die Hochsensibilität überhaupt gibt. In diesem Bereich ist also noch viel Forschung notwendig, um die wissenschaftliche Grundlage zu festigen.
Hochsensibilität als Superkraft
Wenn Menschen eine Hochsensibilität bei sich erkennen, können sie diese für sich nutzen und zu einer richtigen Superkraft entwickeln. Aufgrund der vertieften Informationsverarbeitung können viele hochsensible Personen z.B. neues Wissen besonders gut abspeichern. Sie gelten deshalb auch als gute Zuhörer, da sie sich viele Einzelheiten eines Gesprächsverlauf merken können. Hinzu kommt, dass sie sich in ihr Gegenüber einfühlen und mitdenken können.
Zudem erleben Menschen mit Hochsensibilität ihre Umwelt oft als detail- und facettenreicher als nicht-hochsensible Menschen. Das kann z.B. in kreativen Bereichen genutzt werden. Und auch die verstärkte Emotionalität kann von Vorteil sein, wenn angenehme Emotionen vertieft erlebt und ausgekostet werden. So geht Hochsensibilität beispielsweise mit einer gesteigerten Begeisterungsfähigkeit einher.
Herausforderungen der Hochsensibilität
Menschen mit Hochsensibilität wissen meist ganz gut, welche Herausforderungen mit dieser besonderen Form der Reizverarbeitung einhergehen. So führt die permanente Fülle wahrgenommener Reize oft zu früher Erschöpfung und einer manchmal geringeren Belastbarkeit. Vor allem dann, wenn nicht ausreichend Ruhephasen eingeplant werden können. Zudem kann es emotional belastend sein, die Stimmungen anderer zu spüren. Das heißt, neben den eigenen Gefühlen, auch die Emotionen des sozialen Umfelds aushalten zu müssen.
Oft stoßen hochsensible Personen in ihrem Umfeld dabei auf Unverständnis, Genervtsein oder Verärgerung. „Stell dich nicht so an” oder „Blende das doch einfach aus” sind typische Sätze, mit denen sich hochsensible Personen oft konfrontiert sehen. Umso wichtiger ist es, die eigene Hochsensibilität zu verstehen und einen guten Umgang mit dieser zu finden.
Was kannst du bei Hochsensibilität tun?
Für hochsensible Menschen ist es wichtig, ihre Hochsensibilität zu erkennen und zu verstehen. Das kann helfen, die eigenen Grenzen früher zu setzen, mögliche Zeichen von Überreizung eher wahrzunehmen und diesen entgegenzusteuern. Dabei geht es darum, eine gute Balance zu finden zwischen zur Ruhe kommen und aktiv sein. Was das bedeutet, ist ganz individuell. Das kann ein Spaziergang an der frischen Luft, ein Fernsehabend alleine oder auch Sport sein. Achte auf deine eigenen Bedürfnisse und stell dir regelmäßig die Frage: „Was brauche ich gerade?”
Wichtig ist, dass Zeit für sich und Rückzug nicht die einzigen Bewältigungsstrategien bleiben. Denn Menschen mit Hochsensibilität werden immer wieder Zustände der Überreizung erleben, da sie nicht alle reizintensiven Situationen vermeiden können — oder auch wollen. Techniken aus der Achtsamkeit können beispielsweise helfen, die eigenen Gefühle bewusst wahrzunehmen, wertfrei zu akzeptieren und sie abklingen zu lassen. Denn sicher ist: Auch das intensivste Gefühl ebbt irgendwann ab. Darüber hinaus kann auch Meditation helfen, Eindrücke zu verarbeiten und zu lernen, diese loszulassen.
Und dann mach dir immer wieder bewusst, was du da für eine Superkraft hast und lenke deine Aufmerksamkeit auch auf die positiven Seiten der Hochsensibilität. Damit kannst du deinen Selbstwert stärken und wohlwollender mit dir – und deinem Pförtner – umgehen.
Video-Tipp
Mit Hochsensibilität umgehen
Fit im Stress mit HelloBetter
Um einer Überreizung im Alltag entgegenzuwirken, ist es zudem hilfreich, einen guten Umgang mit Stress zu finden. Auch dadurch fühlt sich dein Gehirn nicht so schnell von Reizen überflutet. In unserem Blog findest du weitere Tipps gegen Stress und wie du Stress abbauen kannst. Außerdem haben wir bei HelloBetter den Fit im Stress Kurs entwickelt, in dem wir dir wirksame Methoden zeigen, um erfolgreich mit Stress umzugehen und das Gefühl der Überreizung zu bewältigen.
-
Hinweis zu inklusiver Sprache
Unser Ziel bei HelloBetter ist es, alle Menschen einzubeziehen und allen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich in unseren Inhalten wiederzufinden. Darum legen wir großen Wert auf eine inklusive Sprache. Wir nutzen weibliche, männliche und neutrale Formen und Formulierungen. Um eine möglichst bunte Vielfalt abzubilden, versuchen wir außerdem, in unserer Bildsprache eine große Diversität von Menschen zu zeigen.
Damit Interessierte unsere Artikel möglichst leicht über die Internetsuche finden können, verzichten wir aus technischen Gründen derzeit noch auf die Nutzung von Satzzeichen einer geschlechtersensiblen Sprache – wie z. B. den Genderdoppelpunkt oder das Gendersternchen.