Was bedeutet Medical Gaslighting?
Der Begriff Gaslighting ist dir wahrscheinlich in den letzten Jahren schon mal über den Weg gelaufen. Die Ursprünge des Begriffs gehen auf ein Theaterstück aus dem Jahr 1938 zurück. Darin wird die Protagonistin durch eine Form der psychologischen Manipulation systematisch dazu gebracht, an ihrer eigenen Wahrnehmung zu zweifeln. Wir kennen den Begriff Gaslighting heute vor allem im Kontext von zwischenmenschlichen Beziehungen, speziell aus Paarbeziehungen.
Medical Gaslighting beschreibt Situationen, in denen medizinisches Personal die Beschwerden von Patienten herunterspielt oder nicht ernst nimmt.
In der Regel handelt es sich hierbei jedoch nicht um eine absichtliche Manipulation. Medical Gaslighting entsteht oft einfach aus einer veralteten oder festgefahrenen Meinung oder einem Mangel an Bewusstsein oder Verständnis für bestimmte Krankheitsbilder.
Wer ist davon betroffen?
Von Medical Gaslighting betroffen sind häufig Frauen, Angehörige der LGBTQ+-Community sowie Menschen mit Migrationshintergrund, Übergewicht oder chronischen sowie schwer diagnostizierbaren Erkrankungen. Studien zeigen, dass Frauen im Durchschnitt häufiger nicht so ernst genommen werden, wie Männer in gleichen Situationen. Insbesondere trifft dies bei Schmerzerkrankungen oder Herz-Kreislauf-Beschwerden zu. Außerdem werden ihre Symptome häufiger auf psychische Ursachen, hormonelle Schwankungen oder ihr Gewicht zurückgeführt. Im Falle der Endometriose beispielsweise erleben Patientinnen oft eine lange Krankheitsgeschichte, in der ihnen gesagt wird, diese Art von Regelschmerzen sei für Frauen ganz normal.
Auch Vorurteile und Stereotype können dazu führen, dass Symptome als weniger schwerwiegend eingestuft oder falsch interpretiert werden. Beispielsweise werden Frauen oder Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen häufig als überempfindlich („hysterisch”) oder hypochondrisch eingestuft. Dies betrifft vor allem People of Color, aber auch das rassistische Klischee von leidigen Migranten hält sich nach wie vor. So gibt es umgangssprachlich auch das sogenannte „Mittelmeersyndrom”, das von medizinischem Personal verwendet wird, um die übertrieben empfundenen „Klagen” von Personen aus dem Mittelmeerraum zu beschreiben.
Auch Patient:innen mit bekannten psychischen Vorerkrankungen, zum Beispiel einer Angststörung, laufen Gefahr, dass neue Symptome vorschnell auf ihre bereits bekannte Erkrankung zurückgeführt werden, ohne dass eine erneute Untersuchung zum Ausschluss anderer Gründe erfolgt.
Eine weitere Gruppe, bei der es vermehrt zu Medical Gaslighting kommen kann, sind Betroffene (chronischer) Erkrankungen, die schwer zu diagnostizieren oder wenig erforscht sind. Dazu gehören beispielsweise das chronische Fatiguesyndrom, Long Covid oder Fibromyalgie. Der Grund ist, dass es hier häufig nur wenige eindeutige klinische Befunde gibt und Behandelnde so manchmal verleitet sind, die Beschwerden als psychosomatisch einzuschätzen. Auch junge Personen, die nicht in das übliche Bild und Ersterkrankungsalter einer Erkrankung („dafür sind Sie viel zu jung”) passen, können betroffen sein.
Was sind die Gründe für Medical Gaslighting?
Die Gründe für medizinisches Gaslighting sind vielfältig und umfassen sowohl systemische als auch individuelle Ursachen. Wir stellen dir hier ein paar vor:
1Wissenslücken und fehlendes Bewusstsein
„Ich weiß, dass ich nichts weiß” sagte schon der antike griechische Philosoph Sokrates. Dass Menschen nicht alles wissen können, ist ganz klar. Medizin ist ein hochkomplexes und sich ständig weiterentwickelndes Feld, das immer wieder neue Forschungsergebnisse, Therapien und Technologien hervorbringt. Das medizinische Wissen wächst heute so schnell, dass es für das medizinische Personal unmöglich ist, immer alle Entwicklungen und Erkenntnisse zu kennen oder im Blick zu behalten. Somit ist es also normal, dass Ärzt:innen nicht alles wissen können. Entscheidend ist, wie mit diesen Wissenslücken umgegangen wird.
Offen für Neubewertung zu bleiben und zuzugeben, wenn man etwas nicht weiß, ist ein Zeichen von Professionalität und Verantwortungsbewusstsein. Nur so kann dein Arzt oder deine Ärztin gezielt weiter recherchieren, Kolleg:innen konsultieren oder dich an Spezialeinrichtungen verweisen.
2Mangel an klaren Leitlinien und Forschung
Medizinische Leitlinien sind Empfehlungen für die Behandlung bestimmter Krankheiten, die sich auf Forschungsergebnisse und Erfahrungen aus der Praxis stützen. Zu einigen Erkrankungen und Patientengruppen besteht aber noch weniger Forschung als zu anderen. Deswegen gibt es auch nicht für jede Erkrankung eine klare Leitlinie. Historisch gesehen hat sich die medizinische Forschung auch lange vor allem auf weiße männliche Personen konzentriert, während Frauen und ethnische Minderheiten oft unterrepräsentiert sind. Dieses Fehlen klarer Leitlinien und gruppenübergreifender Forschungsergebnisse können dazu führen, dass Symptome vorschnell als psychosomatisch oder eingebildet betrachtet werden, wenn sie nicht der Norm und Mehrheit der Forschungsergebnisse entsprechen.
3Zeitdruck
Die moderne Gesundheitsversorgung ist häufig durch knappe Ressourcen und Zeitdruck geprägt. Ärzt:innen haben oft nur wenige Minuten Zeit, um mit ihren Patient:innen zu sprechen, Diagnosen zu stellen und Therapien einzuleiten. Dieser Druck kann dazu verleiten, die Anliegen der Patient:innen vorschnell zu beurteilen und sich eher auf objektive Daten wie Labortests oder bildgebende Verfahren zu verlassen. Eine Folge kann sein, dass den subjektiven Symptomen der Patient:innen weniger Gehör geschenkt wird und wichtige Informationen, die zur richtigen Diagnose führen würden, verloren gehen.
4Zwischenmenschliche Kommunikation im Studium
Medizinisches Fachwissen steht im Medizinstudium im Mittelpunkt. Da diese Wissensvermittlung sehr umfangreich ist, kommt in der Ausbildung die zwischenmenschliche Kommunikation oft zu kurz. Viele Ärzt:innen erhalten relativ wenig Schulung in diesem Bereich, insbesondere in Bezug auf das aktive Zuhören, das Verständnis für subjektive Symptome und den Umgang mit emotionalen Anliegen.
5Hierarchische Strukturen
Traditionell war die Medizin schon immer eine Disziplin mit klaren hierarchischen Strukturen, in der der Arzt als führende Autorität galt. Diese veralteten Werte können manchmal dazu führen, dass die Perspektive der Patient:innen weniger berücksichtigt wird und kein Dialog auf Augenhöhe stattfindet. Allerdings wächst besonders in der jüngeren Generation von Ärzt:innen das Bewusstsein dafür, wie wichtig ein offener Dialog und der Einbezug der Patient:innen ist, um die bestmögliche Versorgung zu gewährleisten.
Welche Folgen kann medizinisches Gaslighting für die Betroffenen haben?
Menschen suchen Arztpraxen auf, weil sie Hilfe benötigen und darauf vertrauen, dass ihre Beschwerden ernst genommen und kompetent behandelt werden. Dafür warten sie oft monatelang auf einen Termin, hoffnungsvoll, endlich Antworten und Hilfe zu finden. Sie legen ihre Gesundheit in die Hände von Fachpersonen und wünschen sich, dass diese ihnen zuhören, sie verstehen und die richtige Diagnose stellen. Dieses Vertrauen ist grundlegend für die Arzt-Patienten-Beziehung. Doch was passiert, wenn dieses Vertrauen erschüttert wird? Wenn Patient:innen das Gefühl haben, dass ihre Sorgen nicht ernst genommen werden?
Die Auswirkungen von Medical Gaslighting reichen von emotionalem Stress und Vertrauensverlust in die Medizin bis hin zu Beeinträchtigungen der Lebensqualität und Lebenserwartung.
Betroffene erleben oft Zweifel an ihrer eigenen Wahrnehmung und Realität. Das Gefühl, nicht gehört oder verstanden zu werden, kann das Vertrauen in die medizinische Versorgung tief erschüttern.
„Liegt es an mir oder am System?”
Wenn wiederholt Symptome abgetan werden, können sich Betroffene hilflos, ängstlich und isoliert fühlen und bestehende psychische Belastungen können sich verschlimmern. Der Verlust von Sicherheit und Vertrauen in das Gesundheitssystem sowie in die eigene Wahrnehmung, sei es körperlich oder emotional, kann traumatisierend sein. Hinzu kommen oft Gefühle von Scham, Schuld und Minderwertigkeit. Betroffene zweifeln an ihrer Wahrnehmung und fragen sich, ob ihre Symptome wirklich schlimm genug sind, um erneut eine Praxis aufzusuchen oder ob sie vielleicht übertreiben. Gedanken wie: „Ist es wirklich in Ordnung, nicht zur Arbeit zu gehen?”, „Geht es mir wirklich schlecht, oder bilde ich mir das nur ein?” oder „Strenge ich mich genug an?” können die Betroffenen plagen.
Viele Patient:innen müssen sich daraufhin oft intensiv auf Arzttermine vorbereiten, können diese nur mit großer Angst ertragen, leiden unter den Folgen und meiden sie im schlimmsten Fall zukünftig.
Neben den psychischen Auswirkungen, bleiben die notwendige Diagnostik und die darauf aufbauende Behandlung oftmals aus. Das kann zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands führen oder dazu, dass die Genesung stagniert.
Wie erkenne ich Medical Gaslighting?
Medical Gaslighting zu erkennen und sich dagegen zu wehren, ist wichtig, um eine angemessene Behandlung zu erhalten und langfristig die eigene Gesundheit zu schützen! Auf diese Anzeichen kannst du achten:
- Du wirst häufig unterbrochen: Du bekommst keine Gelegenheit, deine Beschwerden vollständig zu erklären, weil der Arzt oder die Ärztin dich ständig unterbricht.
- Symptome werden heruntergespielt: Der Arzt oder die Ärztin stellt deine Beschwerden infrage oder spricht dir ab, dass deine Symptome ernst sind (zum Beispiel „Das kann gar nicht so schlimm sein“).
- Ablehnung von Untersuchungen: Wichtige Tests oder bildgebende Verfahren werden nicht angeordnet, obwohl sie notwendig wären, um eine Diagnose zu bestätigen oder auszuschließen.
- Keine Kommunikation auf Augenhöhe: Du hast das Gefühl, dass dein Arzt oder deine Ärztin dir gegenüber unhöflich, herablassend oder desinteressiert ist.
- Symptome werden auf die Psyche geschoben: Ohne gründliche Untersuchung oder eine Überweisung an einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie wird davon ausgegangen, dass deine Beschwerden rein psychischer Natur sind.
- Du zweifelst an dir selbst: Nach dem Termin beginnst du, am Erleben deiner eigenen Beschwerden zu zweifeln, da der Arzt oder die Ärztin sie kleingeredet oder infrage gestellt hat.
- Emotionale Reaktionen: Du fühlst dich nach dem Arzttermin emotional ausgelaugt, frustriert oder verängstigt, weil du das Gefühl hast, dass deine Beschwerden nicht ernst genommen werden.
- Vermeidung medizinischer Betreuung: Du entwickelst Angst vor Arztbesuchen und vermeidest es, Termine zu vereinbaren, weil du dich nicht verstanden oder gehört fühlst.
Was kann ich gegen Medical Gaslighting tun?
Im Umgang mit der Sorge vor Medical Gaslighting kann es hilfreich sein, dich sorgfältig auf deinen Arzttermin vorzubereiten:
- Dokumentiere im Vorhinein deine Symptome, zum Beispiel in Form eines Schmerztagebuchs, und bringe alle Unterlagen mit zu deinem Termin.
- Nimm dir eine Begleitperson mit, zum Beispiel eine Angehörige oder einen Freund.
- Schreibe dir im Vorhinein Fragen auf und stelle sie während des Termins. So kannst du verhindern, dass der Termin früh beendet wird. Zum Beispiel: „Was würden Sie mir weiterempfehlen?”, „Welche Einrichtung kann ich noch aufsuchen?” oder „Können Sie mir jemanden empfehlen?”.
- Setze Grenzen und formuliere dir vor dem Gespräch klare, selbstbewusste Aussagen für Situationen, in denen du dich nicht gehört fühlst. Beispielsweise: „Ich verstehe Ihre Perspektive, aber ich kenne meinen Körper am besten und fühle mich gerade nicht richtig verstanden. Können wir gemeinsam eine Lösung finden?”
- Zeichne das Arztgespräch auf. So kannst du später alles noch einmal anhören. Denn oft ist die Aufregung so stark, dass wichtige Hinweise verloren gehen können. Wichtig ist natürlich, dass du das im Vorhinein ansprichst und dir die Erlaubnis einholst.
- Fasse gegen Ende des Termins gerne noch einmal alle wichtigen Aussagen zusammen, um zu überprüfen, ob du alles richtig verstanden hast.
Fazit – es ändert sich etwas!
Da Patient:innen zunehmend Online-Communitys wie Instagram oder Facebook nutzen, um ihre Erfahrungen zu teilen, erhält das Problem vermehrt Aufmerksamkeit und auch viele Ärzt:innen sind sich darüber bewusst. Doch es wäre zu kurz gedacht, die Verantwortung nur auf das medizinische Personal zu schieben. Das Phänomen des Medical Gaslighting ist vielmehr ein Hinweis auf ein systemisches, strukturelles Problem. Unser Gesundheitssystem braucht dringend Reformen, um mehr Zeit für die Patientengespräche zu ermöglichen und medizinisches Personal in Kommunikationstechniken und im Umgang impliziten Vorurteilen und anderen sensiblen Themen besser zu schulen.
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Quellennachweis
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