Neurodiversität einfach erklärt
Neurodiversität setzt sich aus den Begriffen „Neuro” (Nerven) und „Diversität” (Vielfalt) zusammen. Darunter versteht man die Annahme und Haltung, dass neurobiologische Unterschiede im Gehirn zur Bandbreite unserer Entwicklung gehören und keine Störung oder Krankheit darstellen.
So werden beispielsweise die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Autismus nicht als Entwicklungsstörungen gesehen, sondern als neurologische Vielfalt. Dadurch soll der Fokus von Konzepten wie Krankheit und Defizit Richtung Vielfalt und Individualität verschoben werden.
Nach dem Konzept der Neurodiversität haben Menschen mit ADHS, Autismus und anderen „Lernstörungen” also keine Behinderung oder Störung. Stattdessen spiegeln sie lediglich eine andere Art der Funktionsfähigkeit des menschlichen Gehirns wider – eine Ausprägung auf einem breiten (normalen) Spektrum.
Gut zu wissen
Was fällt eigentlich unter den Begriff „neurodivergent”?
Neurobiologische Unterschiede wurden bisher unter verschiedenen Diagnosen festgehalten.
Zu diesen zählen zum Beispiel:
- Aufmerksamkeitsstörungen wie ADHS und ADS
- Autismus-Spektrum-Störungen
- Entwicklungsstörungen wie Lese- und Rechtschreibstörungen und Rechenstörungen
- Andere Entwicklungsstörungen, die Sprache und Motorik betreffen
Die Neurodiversitätsbewegung sieht diese Diagnosen als natürliche Variationen des menschlichen Gehirns an. Im Folgenden gehen wir genauer darauf ein, welchen Einfluss unsere gesellschaftlichen Anforderungen auf neurodivergente Menschen haben.
Wie Neurodiversität den Blickwinkel verändert
Sehen wir uns das Thema Neurodiversität am Beispiel ADHS an. ADHS kennzeichnet sich durch Impulsivität, Hyperaktivität und Schwierigkeiten in der Aufmerksamkeitslenkung. Im ersten Moment bringen wir diese 3 Merkmale mit Defiziten und Nachteilen in Verbindung, zum Beispiel mit einem Mangel an Konzentration und Kontrolle. Aber stimmt das wirklich? Hier mal eine neurodiverse Perspektive:
- Impulsivität: Spontaneität, die eigene Meinung sagen und für Ideen einstehen
- Hyperaktivität: ein starker Bewegungsantrieb, viel Energie
- Schwierigkeiten in der Aufmerksamkeitslenkung: sich in Traumwelten begeben, Kreativität, Ideenfindung
Wie kommt es also, dass die genannten Merkmale so negativ besetzt sind?
Der Einfluss der Umwelt
Evolutionär gesehen waren Veranlagungen wie ein hoher Bewegungsdrang und Impulsivität, also Gedanken schnell in Handlungen umzusetzen, zum Beispiel beim Jagen sehr nützlich. Bis vor gar nicht so langer Zeit mussten die Menschen auch überwiegend körperlich arbeiten und brauchten viel Energie. Heutzutage werden die Schul- und Arbeitstage aber immer länger, die Bewegung weniger und durch Smartphones sind wir ständig umgeben von neuen Reizen. Wir leben also in einer Welt voller Ablenkungen bei der gleichzeitigen Anforderung, den ganzen Tag still zu sitzen, uns gut zu organisieren und ausdauernd zu arbeiten – auf die Jagd gehen müssen die wenigsten von uns. Eigenschaften, die also mal hilfreich waren, sind es heutzutage nicht mehr.
Es hängt also auch von unseren Umweltbedingungen ab, ob eine Veranlagung als hinderlich oder förderlich wahrgenommen wird. Der Begriff der Neurodiversität kann dazu beitragen, den defizitorientierten Blick zu hinterfragen und zu verändern. So können wir in verschiedenen Veranlagungen die Vorteile und Vielfalt der menschlichen Natur sehen.
Neurodiversität vs. Diagnosen: Zeit für einen Systemwechsel?
Können wir die bisherigen Diagnosen dann nicht einfach gegen den Begriff der Neurodiversität austauschen? Schauen wir uns dazu im Folgenden die Vor- und Nachteile von Diagnosen genauer an.
Nachteile von Diagnosen
- Diagnosen können dazu führen, dass Betroffene in ihrem Alltag stigmatisiert und diskriminiert werden.
- Diagnosen können zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden, z.B. indem Betroffene aufgrund ihrer Diagnose erwarten, dass sie etwas nicht schaffen werden und sich dann dieser Prophezeiung entsprechend verhalten.
- Es kann passieren, dass Betroffene durch eine Diagnose das Gefühl haben, „eh nichts daran ändern” zu können und sich den Symptomen einer Erkrankung hilflos ausgesetzt fühlen.
- Diagnosen werden im Allgemeinen mit Erkrankungen in Verbindungen gebracht. Positive Aspekte einer Veranlagung fallen nicht auf.
- Durch eine Diagnose wird eine Trennlinie zwischen den Kategorien „Krank” und „Gesund” gezogen und es wird vernachlässigt, dass sich alle Menschen auf einem Kontinuum bewegen.
Vorteile von Diagnosen
- Forschende und Behandelnde auf der ganzen Welt können ihre Ergebnisse austauschen diese nutzen, um Betroffenen zu helfen.
- Je genauer Behandelnde wissen, welche spezifische Diagnose vorliegt, desto gezielter können sie helfen und eine passende Therapie anbieten.
- Betroffene können ihre Beschwerden besser einordnen und ein besseres Verständnis dafür bekommen, warum ihnen zum Beispiel manches schwerfällt.
- Betroffene können sich über die Diagnose mit anderen Betroffenen vernetzen und austauschen.
- Mit einer Diagnose können bestimmte Behandlungen wie eine Psychotherapie beantragt und von den Krankenkassen finanziert werden.
Für manche Betroffene kann es wichtig sein, eine Diagnose mit anschließender Behandlung zu erhalten. Für andere Menschen sind Diagnosen zu sehr mit Krankheit und Defizit verbunden, weshalb sie das Konzept der Neurodiversität bevorzugen. Genauso verhält es sich beim Thema Therapie. Manche Menschen leiden beispielsweise unter ihren Konzentrationsschwierigkeiten und wünschen sich professionelle Unterstützung. Andere Menschen fühlen sich nicht oder kaum beeinträchtigt und benötigen keine Unterstützung.
Egal wie man bestimmte neurobiologische Veranlagungen nennt: Wenn du darunter leidest und dich in deinem Alltag beeinträchtigt fühlst, solltest du dir Hilfe und Unterstützung suchen.
Warum das Wort „neurodivergent” zum Nachdenken anregt
Das Konzept der Neurodiversität regt uns dazu an, unser bisheriges Verständnis von Erkrankung und Diagnosen zu hinterfragen und neurologische Unterschiede aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Denn ob wir etwas als „Störung” definieren, hängt auch von unseren gesellschaftlichen Anforderungen und Konventionen ab. Anstatt Funktionsweisen des menschlichen Gehirns in „Normal” und „Abweichend” einzuordnen, können wir die große Vielfalt und Bandbreite der menschlichen Natur in den Fokus rücken und der Individualität mehr Bedeutung beimessen. Denn was ist schon normal? Auch die Art wie wir Diagnosen vergeben (Kategorie „Krank” und Kategorie „Gesund”) wird zunehmend hinterfragt. So findet die Sichtweise, dass sich alle Menschen auf einem Kontinuum bewegen, immer mehr Zuspruch und Bedeutung.
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