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Diagnostik der Panikstörung nach ICD-10 und ICD-11

Als Angst bezeichnet man Reaktionen auf tatsächliche oder vorgestellte Gefahrenreize, die sich in somatischen und psychischen Symptomen äußern können. Diese Angstreaktionen sind bei realen Bedrohungen sinnvoll und überlebenswichtig, da sie das sympathische Nervensystem aktivieren und den Körper dadurch wacher und leistungsfähiger machen. Bei pathologischer Angst sind die Reaktionen jedoch oft unbegründet oder deutlich übersteigert. In diesem Artikel befassen wir uns genauer mit der Panikstörung und ihrer Klassifizierung nach ICD-10 sowie Änderungen im ICD-11. Wir zeigen außerdem, wie Sie Panikstörungen in der Praxis erkennen und von somatischen Erkrankungen abgrenzen können.

Prävalenz der Panikstörung

Angststörungen machen weltweit den größten Teil der psychischen Erkrankungen aus. Zu den Angststörungen gehören laut ICD-10 die soziale Phobie, die Agoraphobie, spezifische Phobien, die Panikstörung und die generalisierte Angststörung. Laut verschiedenen internationalen Studien liegt die Lebenszeitprävalenz einer Angststörung bei bis zu 29 %. Für Deutschland wurde 2014 in der „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland” eine 12-Monatsprävalenz von 15,3 % für alle Angststörungen errechnet. Davon fallen etwa 2 % auf die Panikstörung oder die Agoraphobie mit Panikstörung. Am häufigsten von Angststörungen betroffen sind Frauen im Alter von 18-34 Jahren. Dies ist auch die Altersgruppe, in der sich die häufigsten Erstmanifestationen zeigen.1

Diagnosekriterien der Panikstörung nach ICD-10

Bei einer Panikstörung (ICD-10 F41.0) treten oft spontan und ohne konkreten Auslöser schwere Angstattacken auf. Dabei kann es zu körperlichen Symptomen wie Thoraxschmerzen, Erstickungsgefühl oder Palpitationen kommen. Diese werden von Betroffenen häufig als lebensbedrohlich wahrgenommen. Weiterhin können sekundär psychische Beschwerden wie Kontrollverlust oder Todesangst auftreten.2

Um die Diagnose einer Panikstörung (episodisch paroxysmale Angst, F41.0) stellen zu können, werden in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme 10. Edition (ICD-10) folgende Kriterien festgelegt:

  1. Wiederholte Panikattacken, die nicht auf einen bestimmten Auslöser bezogen sind, oft spontan auftreten und nicht verbunden sind mit besonderer Anstrengung, gefährlichen oder lebensbedrohlichen Situationen.
  2. Die einzelne Panikattacke hat folgende Merkmale:
    1. einzelne Episode intensiver Angst,
    2. beginnt abrupt,
    3. erreicht innerhalb weniger Minuten ein Maximum,
    4. geht mit mind. 4 vegetativen, den Thorax und Abdomen betreffenden, psychischen oder allgemeinen Symptomen einher.
  3. Ausschlussvorbehalt: Panikattacken sind nicht Folge einer körperlichen, organischen psychischen oder einer anderen psychischen Störung.

Beim gleichzeitigen Vorliegen einer Agoraphobie hat diese die höhere diagnostische Priorität. Daher wird ein gemeinsames Vorhandensein der beiden Angsterkrankungen im ICD-10 als Agoraphobie mit Panikstörung (F40.01) klassifiziert. 

Panikstörung im ICD-11: Das hat sich gegenüber ICD-10 geändert

Im Januar 2022 ist die überarbeitete Version der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen, nämlich die ICD-11 in Kraft getreten.3 Bezüglich der Panikstörung (ICD-11 6B01) zeigen sich einige Veränderungen. Als größte Veränderung greift die ICD-11 zentrale Diagnosekriterien auf, die auch in der 5. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) bereits fest verankert sind.4 Darunter fällt als wichtiges Kriterium die anhaltende Sorge oder Befürchtung davor, dass Panikattacken erneut auftreten könnten. Weiterhin ist im ICD-11 die signifikante Beeinträchtigung im persönlichen, familiären, sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereich als Diagnosemerkmal hervorgehoben. Dies bezieht sich unter anderem auf das von Betroffenen häufig gezeigte Vermeidungsverhalten, um dem Auftreten von Panikattacken entgegenzuwirken.

Als weitere wichtige Neuerung wurde die Panikattacke (ICD-11 MB23-H) eingeführt. Dadurch können Panikattacken nun gesondert im Sinne einer Zusatzdiagnose zu anderen Angststörungen oder psychischen Erkrankungen kodiert werden, wenn die Diagnosekriterien für eine Panikstörung nicht erfüllt sind.3

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Panikstörungen in der Praxis erkennen

In der ambulanten Versorgung bleiben Panikstörungen häufig lange unentdeckt und werden daher oft nicht gezielt behandelt. Dies kann zum Teil daran liegen, dass Behandelnde die Panikattacke aufgrund der Kürze der Attacke in der Regel nicht miterleben. Stattdessen schildern die Patientinnen und Patienten bei der Vorstellung in der allgemeinmedizinischen Praxis häufig eher somatische Beschwerden anstatt das Angsterleben. Diese finden sich unter anderem im Bereich der kardialen (z. B. Tachykardie, Brustschmerzen), gastrointestinalen (z. B. Oberbauchbeschwerden, Reizdarmsyndrom) oder neurologischen Symptome (z. B. Kopfschmerzen, Schwindel, Ohnmachtsgefühle). Da körperliche Erkrankungen vor der Diagnose einer psychischen Erkrankung zunächst ausgeschlossen werden müssen, kann als Folge oft ein langer Zeitraum vergehen, bis eine fachgerechte psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung der Angsterkrankung beginnen kann.1

Bei Verdacht auf eine Panikstörung empfiehlt die S3-Leitlinie zur Behandlung von Angststörungen folgende kurze Fragen, die ihm Rahmen des hausärztlichen Kontaktes gestellt werden können:

  • Haben Sie plötzliche Anfälle, bei denen Sie in Angst und Schrecken versetzt werden, und bei denen Sie unter Symptomen wie Herzrasen, Zittern, Schwitzen, Luftnot, Todesangst u. a. leiden?
  • Vermeiden Sie bestimmte Situationen aus Angst?

Zur weiteren Diagnostik sollte eine ausführliche biographische Anamnese mit Erfragung der aktuellen Lebenssituation erfolgen. Weiterhin ist die Einschätzung des Schweregrades der Symptomatik notwendig. Die genaue Exploration dient vor allem der Differentialdiagnostik der verschiedenen Angststörungen und dem Ausschluss anderer psychischer Störungen. Zur genauen Erfassung von Symptomen der Angststörung bieten sich auch validierte strukturierte Interviews wie das Mini-International Neuropsychiatric Interview (MINI) oder das Strukturierte Klinische Interview für DSM-IV (SKID) an.1

Exkurs

Somatische Erkrankungen als Ursache ausschließen

Vor der Erstdiagnose einer Panikstörung (ICD-10 F41.0) sollte zwingend eine somatische Diagnostik erfolgen. Damit können internistische Erkrankungen ausgeschlossen werden, welche als Auslöser für Panikattacken vorliegen können. Angsterkrankungen sind überzufällig häufig mit körperlichen Erkrankungen wie Schilddrüsenerkrankungen, Atemwegserkrankungen, Arthritis, Migräne oder allergischen Erkrankungen assoziiert. Grundsätzlich kann jedes klinische Bild, welches mit für Panikattacken typischen körperlichen Symptomen assoziiert ist, auch selbst eine Panikattacke provozieren. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer kognitiven Missinterpretation somatischer Symptome.1

Zum Ausschluss organischer Ursachen sollten mindestens folgende Untersuchungen vor der Diagnosestellung der Panikstörung erfolgen:

  • Ausführliche körperliche Untersuchung
  • Laborchemische Untersuchung mit Elektrolyt- und Schilddrüsenhormonstatus
  • Elektrokardiogramm (EKG) mit Rhythmusstreifen
  • Je nach Symptomatik zusätzlich Lungenfunktionsstatus, kranielle Bildgebung oder EEG

Die Behandlung der Panikstörung 

Nach der Diagnosestellung wird im hausärztlichen Praxisalltag oft eine reine Pharmakotherapie begonnen.5 Dabei ist nach der S3-Leitlinie zur Behandlung von Angststörungen die psychotherapeutische Behandlung ebenfalls Behandlungsempfehlung 1. Wahl. Therapieziel des Behandlungsplans bei Panikstörung ist die Reduktion der Panikattacken und des Vermeidungsverhaltens, um eine Verbesserung der Lebensqualität zu erzielen. Zahlreiche für die S3-Leitlinie ausgewertete randomisiert kontrollierte Studien haben bereits belegt, dass für die Behandlung von Angsterkrankungen psychotherapeutische Ansätze aus der kognitiven Verhaltenstherapie sehr erfolgreich sind.

Die Wartezeiten für Therapieplätze sind jedoch lang. Eine gute Möglichkeit zur Behandlung, zur Wartezeitüberbrückung oder Therapiebegleitung kann das Online-Therapieprogramm HelloBetter Panik bieten. Die wissenschaftliche geprüfte Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) kann Betroffenen helfen, ihre Selbstwirksamkeit zu steigern und den Schweregrad ihrer Panikstörung und Agoraphobie mit Panikstörung zu reduzieren. Weitere Informationen zur Behandlung der Panikstörung und zahlreichen Informationen rund um DiGA und deren Verordnung finden Sie in unserem Leitfaden für Digitale Gesundheitsanwendungen und auf unserem Fachblog

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  • Quellennachweis
    1. S3-Leitlinie: Behandlung von Angststörungen (2014). Abgerufen von: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/051-028l_S3_Angstst%C3%B6rungen_2014-05_1.pdf 
    2. Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M (2015). ICD-10 – Internationale Klassifikation psychischer Störungen. Bern: Hogrefe Verlag
    3. International Classification of Diseases 11 (ICD-11), Version 02/2022. Abgerufen von: https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http%3a%2f%2fid.who.int%2ficd%2fentity%2f56162827 
    4. American Psychiatric Association (2013). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders 5th Edition (DSM-5). Washington, London: American Psychiatric Publishing
    5. Sommer, M., Hiller, T., Breitbart, J., Schneider, N., Teismann, T., Freytag, A., Gensichen, J (2017). Standardtherapie für Panikstörung mit/ohne Agoraphobie in der Hausarztpraxis. Psychiatrische Praxis, Ausgabe 45, Seite 160-163. doi: 10.1055/s-0043-105058
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