Extravertiert oder introvertiert – Definition und die Psychologie dahinter
Die Unterscheidung von introvertiert und extravertiert geht auf den Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung zurück. Dabei setzt sich der Begriff „introvertiert” aus den lateinischen Wörtern „intro” (hinein) und „vertere” (wenden) zusammen. Womit die Bedeutung schon im Wort steckt: der Innenwelt, also dem Erforschen der eigenen Gefühle und Gedanken zugewandt zu sein. Der Ausdruck „extravertiert” beschreibt hingegen Menschen, die sich vor allem ihrer Außenwelt zuwenden.
Mit Introversion und Extraversion werden in der Psychologie grundlegende Persönlichkeitseigenschaften beschrieben. Darunter verstehen wir Merkmale unserer Persönlichkeit, die über einen gewissen Zeitraum hinweg stabil bleiben, sich also nicht so einfach verändern lassen. Viele Persönlichkeitsmodelle beschäftigen sich mit diesen Merkmalen und helfen uns dabei, die Persönlichkeit eines Menschen besser erkennen und verstehen zu können. Eines dieser Modelle ist das der Big Five.
Introversion und Extraversion im Big Five Modell
Im Fünf-Faktoren-Modell nutzte der US-amerikanische Psychologe Lewis Robert Goldberg fünf Persönlichkeitsfaktoren, die Big Five, um die Persönlichkeit des Menschen zu beschreiben: Neurotizismus (der das Maß an emotionaler Stabilität beschreibt), Extraversion (mit dem Gegenpol der Introversion), Offenheit für neue Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit. All diese Faktoren werden als Dimensionen betrachtet.
Das bedeutet: Wir sind nicht einfach nur extravertiert oder introvertiert, sondern bewegen uns auf einer Skala, auf der Extraversion und Introversion, die zwei Extrempole darstellen.
Was bedeutet es, introvertiert zu sein?
Woher weiß ich, ob ich introvertiert oder extravertiert bin? Und wie lassen sich die Persönlichkeitsfaktoren beschreiben? Die Persönlichkeitsdimension „Extraversion” wird typischerweise über psychologische Fragebögen erfasst. Personen mit hohen Werten in Extraversion werden als abenteuerlustig, aktiv, gesellig, optimistisch und aufbrausend eingeschätzt. Personen mit besonders niedrigen Werten in Extraversion, also introvertierte Menschen, werden als eher distanziert, kontaktscheu, still und zurückhaltend eingeordnet.
Laut dem Psychologen und Persönlichkeitsforscher Hans Jürgen Eysenck zeichnen sich introvertierte Personen durch ein häufiges Bedürfnis nach sozialem Rückzug aus. Warum das so ist? Sind wir introvertiert, ist unser Gehirn in hohem Maß aktiviert und erregt, wenn wir Sinneseindrücke wahrnehmen und verarbeiten. Diese hohe Erregung führt dazu, dass wir eine besonders niedrige Schwelle für soziale Reize haben. Ähnlich wie Menschen mit Hochsensibilität erleben wir dann in sozialen Situationen schneller Überforderung und fühlen uns ausgelaugt.
Ein weiterer Unterschied zwischen der Introversion und Extraversion besteht in der Art, wie wir neue Kraft tanken. Sind wir introvertiert, hilft uns vor allem die Zeit alleine, um zur Ruhe zu kommen und neue Kraft zu schöpfen. Sind wir extravertiert, benötigen wir hingegen das Miteinander mit anderen Menschen, um unsere Energiereserven wieder aufzufüllen.
Ein ganz oder gar nicht?
? Gut zu wissen: Auch wenn es so scheint, als würden sich Extraversion und Introversion ganz und gar ausschließen, finden sich die meisten Menschen eher in der Mitte der Skala wieder. Das heißt, dass wir meist Eigenschaften beider Persönlichkeitsfaktoren besitzen – manche mehr und manche weniger.
Wichtig ist also: Die hier getroffenen Aussagen zu den Persönlichkeitstypen beschreiben zwar den Durchschnitt introvertierter und extravertierer Menschen, lassen sich aber niemals verallgemeinern. Genauso treffen die Beschreibungen keine Aussage über den Wert einer extravertierten oder introvertierten Persönlichkeit – Eigenschaften beider Typen sind aus psychologischer Perspektive gleichermaßen wertvoll. Du kannst also in manchen Situationen eher zurückhaltend und still sein, aber trotzdem gerne Abenteuer leben.
Sind Introversion, Schüchternheit und soziale Phobie das Gleiche?
Die kurze Antwort auf diese Frage lautet: Nein. Introversion, Schüchternheit und soziale Phobien wirken von außen betrachtet oft ähnlich, charakterisieren sich jedoch durch unterschiedliche Prozesse in unserer Psyche.
Schüchternheit bezeichnet eine Zurückhaltung in sozialen Situationen und geht oft mit Angstgedanken einher. Dabei fürchten schüchterne Menschen vor allem die negative Bewertung durch andere. Diese Furcht beruht auf schlechten Erfahrungen, einem geringen Selbstbewusstsein und einer erhöhten Aufmerksamkeit für das eigene Verhalten und Handeln. Anders als bei der Introversion steht hier also die Angst vor Ablehnung im Vordergrund. Introvertierte Menschen ziehen sich hingegen zurück, um einer Reizüberflutung in sozialen Situationen entgegenzuwirken und neue Kraft zu sammeln.
Die soziale Phobie kann als eine Extremform der Schüchternheit betrachtet werden und beschreibt eine Form der Angststörung. Auch hier steht die Angst vor einer negativen Bewertung durch andere im Vordergrund. Betroffene vermeiden soziale Situationen, leiden jedoch anders als Introvertierte unter dieser Vermeidung.
Warum bin ich introvertiert?
Ob wir eher introvertiert oder extravertiert sind, suchen wir uns nicht aus. Denn bei der Introversion handelt es sich um eine zum Teil angeborene Persönlichkeitseigenschaft. So schätzen Forschende, dass unsere Genetik zu etwa 50 Prozent beeinflusst, ob wir zu den introvertierten oder extravertierten Menschen zählen. Die Grundlage dafür liegt in unserer Biochemie. Das menschliche Gehirn enthält eine bunte Mischung verschiedener chemischer Botenstoffe, die genau bestimmen, wie unser Denkorgan funktioniert. Auch wenn diese Botenstoffe bei allen Menschen weitestgehend gleich sind, gibt es kleine Unterschiede darin, wie diese im Gehirn verarbeitet werden. Dadurch hat jeder von uns ein ganz persönliches Rezept, das eine Basis für die Introversion oder Extraversion legt.
Exkurs
Dopamin vs. Acetylcholin – Zutaten in unserem Rezept
Dopamin ist ein Botenstoff, der in unserem Gehirn freigesetzt wird und uns motiviert, nach Belohnungen im Außen zu suchen. Solche Belohnungen können z. B. sein: für ein wichtiges Projekt bei der Arbeit ausgewählt zu werden oder neue Freundschaften zu schließen. Wenn Dopamin ausgeschüttet wird, werden sowohl introvertierte als auch extrovertierte Menschen geselliger und sind motivierter Risiken einzugehen und neue Umgebungen zu erkunden. Introvertierte haben zwar die gleiche Menge an Dopamin zur Verfügung, ihr Dopamin-Belohnungssystem funktioniert jedoch anders. Sie reagieren sensibler auf Dopamin. Wo Extrovertierte einen Energieschub positiver Gefühle erleben, fühlen sich Introvertierte schneller überreizt. Ihr Gehirn greift hingegen vermehrt auf den Botenstoff Acetylcholin zurück. Auch dieser ist mit Vergnügen verbunden. Dabei sorgt er allerdings dafür, dass wir uns eher gut fühlen, wenn wir uns unserem Inneren zuwenden, tief denken und reflektieren.
Doch nicht nur unsere Gene bestimmen, wie wir sind, auch unsere Umwelt formt unsere Persönlichkeit. Damit sind vor allem Erfahrungen gemeint, die wir im Laufe unseres Soziallebens sammeln. Besonders entscheidend sind die ersten Lebensjahre: Wachsen wir etwa mit extravertierten Eltern auf, die viele Kontakte pflegen, ist die Wahrscheinlichkeit, selbst eher extravertiert zu werden, höher. Hinzu kommt, dass Extraversion von unserer Gesellschaft häufiger verstärkt wird – suchen wir Kontakt zu unseren Mitmenschen und gehen offen auf andere zu, erhalten wir meist ein positives Feedback, das uns dazu animiert, dieses Verhalten aufrechtzuerhalten.
Sind extravertierte Menschen glücklicher?
Wie gerade angesprochen, erleben extravertierte Menschen häufiger positive Rückmeldung durch ihre Mitmenschen. Offenheit, Geselligkeit und Optimismus stecken an. Aber macht das auch die Extravertierten selbst glücklicher? Forschende sagen: Ja. In einer Studie im Rahmen des Oxford Happiness Projects gaben Menschen, die extravertiert sind, im Schnitt an, glücklicher zu sein. Diesen Befund konnten auch die drei kanadischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Zelenski, Sobocko und Whelan bestätigen.
In ihrer Studie gehen die Psychologinnen und Psychologen aber noch einen Schritt weiter und fragen sich: Was macht Glück aus? Sie fanden heraus, dass die Bedeutung von Glück unter anderem davon abhängt, in was für einer Gesellschaft wir leben. So macht es ein Umfeld voller Erwartungen, Druck und Schnelllebigkeit Introvertierten schwer, Glück zu finden. Nicht zuletzt, weil sie Wohlbefinden anders definieren – Zeit für sich, wenige, aber tiefe Freundschaften und Entschleunigung stehen dem Wunsch der Extrovertierten nach regelmäßigen Unternehmungen, vielen Kontakten und Abenteuern gegenüber.
Um zu beantworten, ob Extravertierte wirklich glücklicher sind, müssten wir also auch fragen: Bedeutet Glück für jeden Menschen das Gleiche?
Stille Wasser sind tief
Auch wenn unsere Gesellschaft dazu tendiert, extrovertierte Charakterzüge als vorteilhafter zu beurteilen, besitzen auch Introvertierte besondere Stärken. Denn die genaue Selbstreflexion der eigenen Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen und Entscheidungen kann in vielen Lebensbereichen wie im Job oder in sozialen Beziehungen hilfreich sein.
So können introvertierte Menschen besonders gut zuhören und aufmerksam beobachten. Sie zeigen oft ein hohes Maß an Kreativität, erledigen Aufgaben bedacht und gewissenhaft und zeichnen sich damit auch als gute Führungspersonen aus. Außerdem begegnen Introvertierte ihren Mitmenschen mit viel Empathie und können so tiefe Verbindungen eingehen.
Kann ich meine Persönlichkeit verändern?
Lange ist man davon ausgegangen, dass wir unsere Persönlichkeit nicht verändern können. Mittlerweile wissen wir jedoch: Unser Gehirn bleibt bis ins hohe Alter anpassungsfähig, ist also sehr wohl veränderbar. Das heißt zwar nicht, dass wir unser Denkorgan auf null setzen und komplett nach unseren Wünschen umprogrammieren können. Aber wir können stetig dazu lernen und unsere Gewohnheiten ändern. Vielleicht wünschen wir uns, offener zu werden und auf neue Menschen zuzugehen. Dann kann es hilfreich sein, aktiv Situationen aufzusuchen, in denen wir genau dazu angehalten sind. Wir könnten beispielsweise einer Sportgruppe beitreten oder eine Party besuchen, auf der wir noch nicht viele Menschen kennen.
Wichtig ist: Der Wunsch nach einer Verhaltensänderung sollte immer von dir selbst und niemals von außen kommen.
Muss ich mich ändern?
Kleine Anpassungen in unserem Verhalten vorzunehmen kann unser Leben positiv beeinflussen. Unsere gesamte Persönlichkeit zu ändern ist aber weder möglich noch ratsam. Besteht der Wunsch, anders zu sein, kann es helfen, sich die eigenen Stärken wieder vor Augen zu rufen. Dabei können dich unsere Artikel zu den Themen „Selbstakzeptanz” und „Selbstwert stärken” unterstützen. Um mit sich im Reinen zu sein, ist es außerdem wichtig, unser soziales Umfeld von Menschen zu befreien, die uns das Gefühl geben, so wie wir sind, nicht richtig zu sein. Abschließend lässt sich nämlich sagen: Ob introvertiert oder extravertiert – am Ende sind wir alle genug und ganz genau richtig, so wie wir sind.
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Quellennachweis
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- Zelenski, J. M., Sobocko, K., & Whelan, A. D. C. (2013). Introversion, solitude, and subjective well‐being. The handbook of solitude: Psychological perspectives on social isolation, social withdrawal, and being alone, 184-201.
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